Raimar Stange
Fiktiv(e) Leben?
Die (eigene) Biographie und Identität hat sich spätestens in der Moderne als bloße Fiktion erwiesen. Doch dieses fiktionale Moment impliziert nicht nur kritische Aspekte, sondern eröffnet den (künstlerischen) Produzenten von „Lebensläufen“ und „Subjekten“ durchaus auch emanzipative Qualitäten.
I. Moderne Zeiten
Der Kulturkritiker Siegfried Kracauer schrieb anno 1930 seinen Aufsatz „Die Biographie als neubürgerliche Kunstform“ und demontierte in ihm die Auffassung, dass Biographie und Subjektivität in der kapitalistischen Moderne einen wahrhaftigen Platz finden könne, nachhaltig. Kracauer stellte fest: „Das Vertrauen in die objektive Bedeutung irgendeines individuellen Bezugssystems ist dem Schaffenden ein für allemal verloren gegangen“. Er folgerte: „So wenig sich der Schriftsteller noch auf sein Ich berufen kann, ebenso wenig gewährt ihm die Welt einen Halt; denn beider Strukturen bedingen einander“. Die westliche Welt ist eben Anfang des 20. Jahrhunderts eine durch und durch moderne geworden, dass heißt: Industrialisierung und Kapitalismus prägen die Gesellschaft jetzt vollständig, Fragmentierung, Medialisierung, Massenproduktion und Geschwindigkeit geben den Ton an, der Mensch wird zum nichtigen Glied anonymer Produktions- und Konsumketten „inmitten der erweichten unfasslichen Welt“1. Gleichzeitig konstatiert Siegfried Kracauer aber einen Boom von literarischen Biographien. Seine Erklärung: “Die Biographie als Form der neubürgerlichen Kunstform ist ein Zeichen der Flucht“2. Und: „Das Motiv der Flucht, dem die Unzahl der Biographien ihre Entstehung schuldet, wird von dem der Rettung überblendet“3. Rettung nämlich verspricht die Biographie dadurch, dass sie all das bietet, was die Welt und darum auch das Ich nicht mehr leisten können: verlässliche Strukturen, in denen sich ein Leben bedeutungsvoll und stabil abspielt4.
Dieses Moment der „Rettung“…