Extremität im Emotionalen
Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie
In die umfassende Neubearbeitung seines erstmals 1986 vorgelegten Buches hat Hartmut Kraft weitere Werk- und Lebensläufe aufgenommen, an denen nachgewiesen werden kann, wie Maßnahmen zu einer seelischen Stabilisierung auch “neue kreative Möglichkeiten eröffnen”. Dazu gehört z.B. das Kapitel über Joseph Beuys (S. 282 ff.) Kraft hatte lange gezögert, dessen Hinwendung zum Schamanismus als Durchleben einer “Transformationskrise” zu beschreiben, um nicht weiteren Vorurteilen gegen das Beuys’sche Werk Vorschub zu leisten. Denn die unausrottbaren Klischeevorstellungen der Spießer vom “verrückten Künstler” will er mit seinem Buch keineswegs bedienen. Mit Krafts Interpretation der legendären New Yorker Coyote-Performance 1974 als “gelungene Verarbeitung eigener lebensgeschichtlicher (initiatorischer) Problematik” können allerdings auch fundamentalistische Beuys-Jünger gut leben, die gemeinhin die Deutungshoheit für sich beanspruchen.
Anton Räderscheidt gelang nach einem Schlaganfall “in seinen Bildern durch systematisches Üben die zunehmende Kompensation seiner linksseitigen Wahrnehmungsstörung – bei gleichzeitig unverändertem objektiven körperlichen Befund” (S. 153). Kraft bescheinigt ihm sogar, daß die in jener Phase entstandenen Werke “malerisch offen”, mithin künstlerisch lebendiger seien als die früheren “steifen, unfrohen” Bilder: “Es hat den Anschein, daß die schwere körperliche Erkrankung seelisch geradezu befreiend bewirkt hat”. Wo sich dies auch noch mit einer künstlerischen Innovation verbindet, führt Kraft den Begriff “Plusheilung” an. Krankheit ist in diesem Sinne nicht nur beklagenswerter Verlust von Gesundheit, sondern gleichzeitig und paradoxerweise Chance zu einem persönlichen Gewinn, der wohl ohne diese Krankheit nicht erreicht worden wäre. Bei van Gogh hat die Kunstgeschichtsschreibung bekanntlich schon recht früh angenommen, daß eine Extremität im seelisch-emotionalen Empfinden (und dann zwangsläufig in…