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Titel: EveryBODY – Körperkunst und Kunstkörper · von Ann-Katrin Günzel · S. 44 - 47
Titel: EveryBODY – Körperkunst und Kunstkörper ,

FOKUS

EveryBODY. Körperkunst und Kunstkörper

herausgegeben von Ann-Katrin Günzel

Es gibt wohl kaum etwas, das derzeit so im Fokus unserer Aufmerksamkeit steht, wie das Bild von unserem Körper. Und das obwohl – oder gerade weil – wir ihn mit zunehmender Digitalisierung auch immer mehr zum Verschwinden bringen und durch unterschiedliche Prothesen und Hilfsmittel ersetzen. Wir gestalten, optimieren und inszenieren unsere Körper seit Jahrhunderten. Mit zunehmenden (bio-)technologischen Möglichkeiten modifizieren und perfektionieren wir ihn aber auch stetig und gestalten unsere eigene physische Identität. Der Körper wird damit immer mehr, gerade auch mit Hilfe der Schönheitsindustrie, zur Projektionsfläche unserer Wünsche und Ziele, zur fixierten Idee, zu einem Bild, das durch Anti-Aging-Produkte, Operationen und Botox ewig jugendlich gehalten werden soll. Welchem brutalen Horror wir uns damit bisweilen unterziehen und welche Konsequenzen wir dafür zu tragen bereit sind oder sein müssen, ist beunruhigend. Schönheitsoperationen werden zum Standard, Beautyprodukte jährlich in mehrfacher Milliardenhöhe vermarktet und #bodypositivity wird von Essstörungen und Selbsthass begleitet. Das Ziel ist dabei stets dasselbe: der perfekte Body.

Normiert definierte Schönheit kann zum Zwang, zur Notwendigkeit oder gar zur Überlebensstrategie werden, wes wegen das Erscheinungsbild des Körpers weit davon entfernt ist, beiläufig zu sein.

Standardisierte Vorstellungen eines „schönen“, aber bereits Definitionen eines „normalen“ Körpers können zum Zwang, und die Anpassung daran zur Überlebensstrategie werden, wenn Ungleichheit und Diskriminierung wie selbstverständlich mit der Festlegung einer Norm oder der Gestaltung des gesetzten Ideals einhergehen. Modifizierungen werden zur „Notwendigkeit“, wenn der Körper nicht dem vom Patriarchat privilegierten weißen, männlichen, jungen, gesunden, fitten und heterosexuellen Idealkörper entspricht und damit von weiten Bereichen gesellschaftspolitischer Teilhabe ausgeschlossen wird oder gar durch Rassismus in Gefahr gerät.

Andererseits ist die Forschung zu KI und Robotik inzwischen in der Lage Cyborgs und Androide hervorzubringen oder gar den Weg in eine Zukunft für post-humane Wesen und Verwandtschaftsverhältnisse zu bahnen, und der Gentechnologie gelingt es, dass neue Identitätskonstruktionen sich entfalten können und Gendergrenzen (langsam) fluide werden. Gesellschaftliche Erwartungen hinsichtlich eines binären kategorialen Denkens und damit einhergehender Gender-Zuschreibungen befinden sich im Wandel und lassen mittlerweile eine größere Offenheit in der Betrachtung der Transformation von Körpern zu. So kann die Vielfalt der Lebensrealität queerer und trans*Personen jenseits von heteronormativen Vorschriften gestaltet werden.

Die Frage, wo an den Schnittstellen von Auflösung und Neuerschaffung, von Grenzen und Möglichkeiten, zwischen Körperkunst und Kunstkörper Positionen in der Gegenwartskunst auftreten, die diesen Zustand reflektieren, ist gerade in einer Zeit, in der uns Bilder voller inszenierter Ideale, Idole und Influencer*innen im Alltag vollkommen beliebig und kritiklos überfluten, von zunehmender Bedeutung. Und so widmet sich dieser Band nach einem Blick auf die jahrhundertealte Faszination für die Darstellung des Körpers, die sich schon immer auch in der Kunst spiegelt, verschiedenen Ansätzen und Zugängen zum Körper in der Gegenwartskunst.

Wie stark der Körper gegenwärtig in performativen Strukturen in der Kunst verankert ist, zeigt sowohl die Bildstrecke der beiden Performancekünstler*innen Angie Hiesl und Roland Kaiser als auch der Beitrag „Mit Leib und Seele“, der aktuelle Werke von Miles Greenberg, Göksu Kunak und Isaac Chong Wai betrachtet. In ausführlichen Interviews mit den Künstler*innen Sophia Süßmilch, Gintarė Sokelytė, Anys Reimann und Agnes Questionmark werden unterschiedliche künstlerische Auseinandersetzungen mit Identitäten, mit Selbstbestimmung und mit dem weiblichen, dem queeren oder dem nicht-weißen Körper aufgeführt. Hier zeigt sich, wie Widerstand gegen heteronormative neoliberale Körperideale aussehen kann und welche Wege zu einer positiven Selbstidentität führen können. Wie sich die Spuren des Körpers durch „Blut, Schweiß und Tränen“ in der zeitgenössischen Kunst manifestieren und welche Bedeutung sie für unsere gemeinsame kulturelle Erfahrung haben, untersucht Herbert Kopp-Oberstebrink in seinem Essay in diesem Band, während Julia Thiemann einen Einblick in fluide Identitäten gibt, die sich in der zeitgenössischen Kunst mit fortschreitenden technischen Möglichkeiten als Selbstkonzepte konstituieren. Gregor Schneider hingegen, der sich in seinem Werk mit dem sterbenden Körper beschäftigt, berichtet abschließend von seinem Versuch, auch das Leiden und Sterben in die Mitte der Gesellschaft zu bringen. Denn Körperkonzepte verändern und entwickeln sich, jeder Körper ist jedoch trotz aller Möglichkeiten und Modifikationen endlich und die Unsterblichkeit nach wie vor eine Utopie, die nur in der Kunst Gestalt annehmen kann.

von Ann-Katrin Günzel

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