RAYMUND WEYERS
Etwas ver-rückt
DAS DISPLACEMENT, LEIBNIZ, NEWTON UND KASSEL
Ich weiß nicht, was Kunst ist, sagt documenta-Chef Jan Hoet, und natürlich weiß er, daß solche gewollt anstößigen Bekenntnisse die Kritik auf den Plan rufen. Seine Methode der Kunstbetrachtung sei vielmehr rein intuitiv, fügt der Belgier hinzu. Überhaupt sei es schwierig, wenn nicht unmöglich, in abstracto die Kriterien dafür zu geben, was die Kunst im allgemeinen auszeichne und als was sie vor allem in unseren Tagen bestimmt werden könnte. Theorien, Konzepte – all das soll in Kassel für dieses Mal im Hintergrund bleiben; das Team von Jan Hoet setzt statt dessen auf die lebendige Auseinandersetzung, auf das Schauen zumal.
Dieser Ansatz ist insofern schlüssig, als ja die Kunstwerke selbst ihre eigene Sprache haben. Symposien über ästhetische Theorien sind von anderer Art. Trotz derlei Selbstbeschränkung will die DOCUMENTA IX nicht einfach das sein, was sie mit den vorangegangenen acht Ausstellungen verbindet, nämlich die bedeutendste, jedenfalls spektakulärste Präsentation von Gegenwartskunst. Hoet will, wie er versichert, mit der DOCUMENTA IX kein Zeitdokument abliefern. Er will zur Essenz der Kunst zurückkehren, will mit Hilfe seiner Auswahl diese Essenz erfassen. Die Philosophen übersetzen “essentia” mit Wesen. Dieses Wesen freilich, so meinen sie, sei nur im Denken zu erfassen. Hoet will es zeigen.
Man mag nun Zweifel hegen, ob die bloße Theorie- und Konzept-Abstinenz der Kunst schon zu neuer Dignität verhilft. Conceptus – der lateinische Ausdruck vermeint ja schlicht den Begriff, auf den ein jeder sich einlassen muß, wenn er etwas in Gedanken erfassen will. Und Gedanken haben sie sich…