Entwurzelung und grenzenloses Spektakel
Marc Augé über »Nicht-Orte« und das »Nicht-Ich«
Den Begriff “Nicht-Ort” habe ich zuerst verwendet, um ihn dem “Ort” gegenüberzustellen. Ort ist ein Raum, den sich die Menschen seit langem angeeignet haben, von dem man buchstäblich etwas ablesen kann über ihre Beziehungen zur Geschichte, zur sie umgebenden Natur, und weit mehr noch über die Beziehungen der Menschen untereinander. Die Anthropologie lehrt uns, daß die Organisation des Raumes in bestimmten Gesellschaften sehr weit fortgeschritten ist. So schreiben dort Wohn-Gesetze vor, mit wem ein Individuum von seiner Geburt bis zu seinem Tod jeweils zusammenleben darf, durch alle sozialen und biologischen Lebensphasen hindurch (Jugend, Heirat, Fortpflanzung, Alter). Der Wechsel von einer Phase zur nächsten bewirkt oft einen Wechsel des Wohnsitzes, sogar die Wahl der letzten Ruhestätte wird selten dem Zufall überlassen.
Aus dieser Sicht beginnt der Nicht-Ort mit der Entwurzelung. Die Bauern, die im 19. Jahrhundert zur Landflucht gezwungen und in städtisches Milieu verpflanzt wurden, die Auswanderer und die Flüchtlinge, sie alle machen die Erfahrung des Nicht-Ortes. Die großen Pionierbewegungen, die Kolonisierung neuer Gebiete können als Unternehmungen mit dem Ziel aufgefaßt werden, den Raum in Orte zu verwandeln. In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß es eine objektive und eine subjektive Dimension des Begriffs Nicht-Ort gibt. Der Nicht-Ort existiert (sogar negativ) durch den Blick der Menschen, die sich nicht darin wiedererkennen oder nicht mehr wiedererkennen oder noch nicht wiedererkennen. Eine einsame Insel, ein Regenwald sind oder waren nicht (denn es gibt sie nicht mehr) Nicht-Orte, sondern Räume, möglicherweise zu erobernde Räume, virtuelle Orte. Das…