Einer „neuen Normalität“ entgegen
von Ruth Levitas
2020. Das erste Jahr der Covid-19 Pandemie. Mitte November lagen die Fallzahlen der Infizierten bei fast 57 Millionen und 1.4 Mio. Todesfällen, davon 250.000 in den USA und 350.000 in Europa. Bevölkerungen der ganzen Welt befanden sich im Lockdown und standen monatelang unter virtuellem Hausarrest. Die Verkaufszahlen von Albert Camus’ Buch „Die Pest“ (1947) schnellten in die Höhe. Physische Kontakte zwischen Menschen aus unterschiedlichen Haushalten, einschließlich Eltern und ihrer erwachsenen Kinder oder Großeltern und Enkel, wurden zur Gefahr erklärt und verboten. Die Gegenwart wurde plötzlich zutiefst dystopisch und beängstigend.
Dennoch beschrieb Arundhati Roy, die über den Lockdown in Indien berichtete, Covid-19 als das Tor zu einer neuen Welt: ,Historisch gesehen zwingen Pandemien die Menschen dazu, mit ihrer Vergangenheit zu brechen und sich ihre Welt neu zu denken. Diese ist da nicht anders. Sie ist ein Tor, ein Verbindungsgang zwischen einer Welt und der nächsten.“1
Genau das ist die Aufgabe Utopias: sich die Welt neu vorzustellen. Dafür muss unser für sicher gehaltener Alltag aber hinterfragt werden, denn die Vorstellung einer neuen Welt bedeutet Entwöhnung, Entfremdung und Bruch. Die Pandemie stellt einen solchen Bruch dar: feste Gewohnheiten bei Arbeit, Bildung und Geselligkeit sind nun weggebrochen. Dabei wurden die Benachteiligungen und Absurditäten der alten Welt offengelegt. Sobald es schwieriger wurde, unnötige Güter an überschuldete Menschen zu verkaufen, erwies sich die kapitalistische Wirtschaft als instabil. Die wirklich wichtigen Dienstleistungen werden ganz offensichtlich von schlecht bezahlten Menschen wie z. B. Krankenpfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Lieferbot*innen oder Verkäufer*innen geleistet, und so ist die den kapitalistischen…