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Essay · S. 60 - 62
Essay , 1991

Eine unglaubliche Geschichte

Von Vilém Flusser

Sie heißt “Literaturgeschichte”, also etwa “Geschichte der Buchstabenmenge”. Sie beginnt vor etwa 3 500 Jahren, und gegenwärtig droht sie zu enden. Es eilt daher, sie zu erzählen, denn nach ihrem Ende kann überhaupt nichts mehr erzählt werden, auch sie selbst nicht. Nachher, wenn es mit den Buchstaben aus ist, kann nur noch geschildert oder aufgezählt werden. Aber mit dem Erzählen der Literaturgeschichte ist es eine eigenartige Sache: Die Erzählung ist selbst eine Buchstabenmenge, ist selbst Teil der Literaturgeschichte. Die Erzählung vom Ende der Literaturgeschichte ist ein den eigenen Körper fressendes Schwänzchen. Das Gegenstück zu Uroboros, der schwanzfressenden Schlange. Und das sieht etwa so aus:

Vor dreieinhalb Jahrtausenden machten einige Leute an einem östlichen Mittelmeerstrand den folgenden Vorschlag: Von jetzt ab mögen einige Schriftzeichen, die bisher Wörter bedeutet haben, den Anfangslaut dieser Wörter bedeuten. Zum Beispiel sollen das Zeichen für das Wort “aleph” (Stier) von jetzt an den semitischen laut “a” und das Zeichen für das Wort “betha” (Haus) von jetzt an den Laut “b” bedeuten. Dieser Vorschlag wurde seitens einer Gruppe von Kaufleuten und Priestern angenommen. Die derart konventionierten Schriftzeichen heißen seitdem “Buchstaben”, und die Leute, die diese Zeichen prozessieren, heißen “litterati” oder “hommes de lettres”. Man hat sich in der sogenannten okzidentalen Kultur auf nur 26 Buchstaben geeinigt. Das ist eine eher bescheidene Menge, und es sieht auf den ersten Blick so aus, als ob an so einer kleinen Menge nicht viel zu prozessieren wäre. Aber Buchstaben sind Typen, nicht Charaktere, und das bedeutet, daß von…

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