Philippe Derivière
Ein schwules Leben
Ein wesentlicher Teil meines Lebens – der persönlichste und verborgenste – eröffnete sich mir eines Tages mit einem bis dahin in meinem Wortschatz nicht vorhandenen Begriff, ohne den ich nie erfahren hätte, wer ich war und wohin ich gehörte. Das war vor etwa fünfzehn Jahren, in einem anderen Land und in einer Zeit, so weit entfernt wie in einem anderen Leben. An jenem Tag nahm ich einen Weg am Rande einer kleinen Stadt, wo ich gerade mein Studium begonnen hatte. Ich war neunzehn oder zwanzig und setzte mich seit einigen Monaten intensiv mit mir selbst und meinem Gefühlsleben auseinander. Ich hatte damals eine Beziehung zu einem Mädchen namens Isabelle. Ich liebte sie oder zumindest war ich ihr wie einer Schwester oder Vertrauten seit dem ersten Tag unserer Schulzeit verbunden. Aber seitdem hatte sich viel verändert, ich war nach dem Abitur an die Universität gegangen und es tauchten neue Gefühle und Sehnsüchte auf, derer ich mir nie bewusst gewesen war. Obwohl mir die Begleitumstände jenes Tages entfallen sind, erinnere ich mich, wie mir beim Laufen alle möglichen Sorgen durch den Kopf gingen – Sorgen, die mit den Veränderungen in mir selbst zu tun hatten. Mein Weg führte mich über eine schmale Brücke zu einem Wald, wo ich öfters spazieren ging. In dem Augenblick, als ich die Brücke betrat – warum gerade hier? – überfiel mich die plötzliche Erkenntnis, dass es eine Lösung für meine Probleme gäbe, wenn ich den Mut hätte, sie beim Namen zu nennen. Und…