Horst Bredekamp
Ein Mißverständnis als schöpferischer Dialog
Bemerkungen zur Antikenrezeption der Romanik
Der europäischen Kunstgeschichte hat die Antike ein prachtvolles Gefängnis hinterlassen, in das Ausbrecher bis heute immer wieder freiwillig zurückkehrten. Auch jüngere, radikale Befreiungsversuche von Marinetti (“Ein Rennwagen ist schöner als die Nike von Samothrake”, 1908) bis Newman blieben auf die alteuropäische Bildsprache fixiert, und selbst die jüngste Hochphase bezugsfreier Individualität wurde durch die vielbeschworene “Wiederkehr des Mythos” mit antiken Mustern konfrontiert.
Ob zum Signum des modernen Künstlers nicht unabdingbar der Versuch gehört, sich von der normativen Übermacht der Antike zu befreien, ist oftmals durchdacht worden. Im Folgenden soll daher auf das Mittelalter eingegangen werden, zumal sich das Spannungsverhältnis zur antiken Bildwelt hier grundlegend anders und radikaler aufbaute und damit extremere Antworten erzwang. Der Grund liegt darin, daß die antiken Skulpturen prinzipiell als Idole heidnischer Mächte geächtet waren, zumal sie im Verdacht standen, weiterhin mit dem Dämon im Bund zu stehen. Noch im 14. Jahrhundert, also als die Antike in Italien scheinbar längst rehabilitiert war, wurde in Siena eine (um 1340 gefundene) Venusstatue zerschlagen, weil man sie für eine Reihe militärischer Niederlagen verantwortlich machte. Dieses späte Zeugnis eines fast tausendjährigen Krieges gegen die antiken Götterstatuen verdeutlicht plastisch, daß Höchstleistungen dialogischer Fähigkeiten eingesetzt werden mußten, um die Ächtung der Idole im Gegenzug zu überwinden und um die antiken Formen für die eigene Bilderwelt zu nutzen.
Erste Züge einer rudimentären Wahrung des Geächteten zeigen Angriffe, die sich nicht als Sturz und Zertrümmerung, sondern als eine Art ritueller Verwundung der antiken Bildwerke vollzogen. So wurde eine…