Gislind Nabakowski
Ein Baum mit leeren Vogelnestern
Van Gogh’s Briefe
Über zwanzig Jahre lang waren sie vergriffen. Jetzt wagte der Lamuv-Verlag aus Bornheim-Merten einen Reprint der gesamten Briefe des Malers Vincent van Gogh (1853-1890) in sechs Bänden. Für den Kleinverlag (Geschäftsführer ist der 36jährige René Böll, ein Sohn des Literatur-Nobelpreisträgers), der sich der Herausgabe von politischen Schriften aus Südafrika, Lateinamerika und der Indianerbewegung verschrieben hat, bedeutet das ein erhebliches Risiko. Mit Büchern über das Leben des unglücklichen Künstlers ist der Markt bei uns schließlich mehr als gesättigt. Wohl schätzungsweise 40 Bände zum Lebenswerk van Goghs gibt es derzeitig in der Bundesrepublik. Daneben gibt es Tausende von Reproduktionen, Poster und Postkarten. Wie oft hat man sie nun schon gesehen, die rotierenden Sterne auf tiefblauen Himmeln, die wahnsinnigen untergehenden Sonnen, die zugleich auch aufgehende Monde sind, den Sämann mit der gleißend gelben Sonnenaureole, die gleichnishaft den Tod bedeutenden Saatkrähen, den schelmisch dreinblickenden Postboten, der wie ein Russe aussieht, die finsteren Zypressen, die aufrüttelnden, hohlwangigen Selbstporträts? Man kennt den US-Fernsehfilm mit Kirk Douglas in der Titelrolle. Südfrankreich-Reisende gehen in den provencalischen Städten Arles und Saint-Rémy auf Spurensuche nach dem Künstler. Der typische Stuhl mit der geflochtenen Sitzfläche wurde dort nach ihm benannt. Leben und Bilder des Künstlers van Gogh glaubte man doch immer schon gut zu kennen? Und doch: gemessen an dem intimeren Blick in die Philosophie des Künstlers, den die aufwendige faksimilierte Edition jetzt ermöglicht, wird man sich plötzlich der erheblichen Distanz bewußt, des Secondhand-Blicks, des Bewußtseins voller Klischees und Verkürzungen, das man zum…