Michael Hübl
Egopolar
Die Erinnerung an die so genannten ‚Neuen Wilden‘ gibt Auskunft über einige Aspekte des gegenwärtigen Zustands der Gesellschaft
Mit der Beschleunigung der Welt verkürzen sich die Zyklen der medialen Wiederaufbereitung. Derzeit sind wieder einmal die Maler an der Reihe, die als ‚Neue Wilde‘ apostrophiert wurden.1 Das ist etwa 30, 35 Jahre her. Ein wirkliches Initialdatum, einen Stichtag des ersten spontan-punk-anarchisch-expressiven Pinselschlags gibt es nicht, mithin auch kein Jubiläum. Aber vielleicht sieht mancher in dem Malerei-Boom der 1980er-Jahre heute eine Fluchtmöglichkeit, einen nostalgischen Ort, an dem die Kunstordnung noch intakt war, weil alles so überschaubar schräg, schrill, roh und aufmüpfig daherkam. Denn dieser Habitus harmoniert mit den Rollen und Funktionen, die den Künstlern in der gegenwärtigen, auf Rendite und Effizienz ausgerichteten Gesellschaft zugedacht sind. Zu diesen Zuweisungen (was ihre Aufgabe im gesellschaftlichen Gesamtgefüge anbelangt) gehört: Künstler sollen wilde Ideen haben oder sich wild aufführen. Sie sollen entweder abgedrehte Sachen zurechttüfteln, spinnerte Utopien ausformen, visionären Obsessionen folgen oder aber rüpel- und rabaukenhaft herumwüten, das ‚entfant terrible‘ geben und ihren Nonkonformismus zur Schau stellen.
In der ersten Variante sollen sie ein Reservoir für kreativen Input vorhalten, der sich bei Bedarf wirtschaftlich verwerten lässt – sei es zur Auffrischung sklerotisierter Produktlinien, sei es um neue Konsumfelder zu erschließen. In der zweiten Variante wird von Künstlern erwartet, gleichsam exterritoriale Kompensation zu betreiben: Was auf dem Gebiet alltäglicher Daseinsorganisation durch den Zwang, sich rationalisierten Arbeitsprozessen und/oder strammen Leistungsvorgaben unterzuordnen, nicht möglich ist, wird stellvertretend von denen repräsentiert, die das Privileg genießen, scheinbar grenzenlos frei zu…