Editorial
Lieber Leser,
dieser Band 22 ist in mehrerer Hinsicht ein Sonderband: nicht nur dadurch, daß er, wie in Nr. 19 angekündigt, ebenfalls nur einem Thema gilt, der Fotografie der documenta 6, nicht nur durch die wohl bisher unübertroffene Fülle an Bildinformation zur Geschichte und Methodik der Fotografie (ca. 650 Abbildungen zur ‘Straight-Fotografie’), sondern vor allem auch durch den Versuch, Fototheorie nicht durch lange Texte, wie man das gewohnt ist, sondern durch Strukturen, die die Bildreihen gliedern, direkt optisch einsichtig und plausibel zu machen. Nur kurze, fast stichwortartige Einführungstexte zu den Gliederungspunkten sollen hier ‘Wahrnehmungshilfen’ bieten, wie auch die erweiterten Bildunterschriften zu jedem Fotografen.
Es geht hier allerdings nicht um Theorie in Bezug auf soziale Wirksamkeit der Fotografie, sondern um ein Einsichtigmachen in die spezifischen Möglichkeiten der Sprache der Fotografie. Die ‘Handschrift’ des Fotografen ist seine ‘Haltung’, seine Sicht der Wirklichkeit, die sich in der Auswahl der abgelichteten Wirklichkeitssegmente niederschlägt, und die ist naturgemäß nicht am Einzelstück ablesbar, sondern wird erst beim Betrachten mehrerer Arbeiten des Autors erkennbar. Kunst, durch das Medium Fotografie vermittelt, hat oft größere intellektuelle (Um-)wege hinter sich als zum Beispiel in verschiedenen Formen realistischer Malerei, auch wenn vordergründig meist das Gegenteil vermutet wird. Der Fotoapparat schont nicht den Intellekt, sondern er fordert ihn geradezu zu verstärkter Inanspruchnahme heraus, soll mit ihm eine persönliche und/ oder allgemeingültige Aussage gemacht werden. Beim Betrachten läuft hier der Vorgang meist umgekehrt. Um nur einen Aspekt, nur ein Beispiel herauszugreifen, das in letzter Zeit in polemischen Debatten eine Rolle spielte: kaputte Wirklichkeit auf einem…