Vitus H. Weh
Dokumentationstaumel
AUSSTELLUNGSKATALOGE UND IHRE ORDNUNGSSYSTEME
Wenn es im Folgenden um nichtlineare Strukturen in Ausstellungskatalogen geht, sollte keinesfalls der Eindruck entstehen, dass diese häufig seien. In der Flut der beständigen Neuerscheinungen sind sie vielmehr die Ausnahme. Denn Kunst mag nichtlineare Techniken verwenden so viele sie will, in zwei Bereichen wird sie von der Linearität meistens wieder eingeholt: Einerseits in der Biografie des Künstlersubjekts, andererseits im Medium des Ausstellungskatalogs, das jede verstreute Spur wie ein schwarzes Loch wieder an sich zieht. Da man in Katalogen selten auf Biografie- und Ausstellungslisten verzichtet, verstärken sich beide Bereiche oft gegenseitig. Aber selbst wenn die bemüht symbolische Aufwertung durch Historie einmal fehlt, bleibt der gewöhnliche Ausstellungskatalog ein Buch. Und ein Buch ist der Inbegriff des Linearen: Buchstaben und Zeilen reihen sich darin zu einem stetigen Fluss, eine Seite folgt auf die andere. Die “Geschichte” spult sich ab.
Ungeachtet dieser meist unterschätzten “Macht der linaren Schrift” hat das Nichtlinare heute in den Museen der Kunst längst Einzug gehalten. Mit CD-ROMs, Webseiten und computergestützten Informationsterminals gibt es durch die Sammlungen nicht mehr allein den klassischen Rundgang, wie ihn prototypisch Schinkels Altes Museum zu Berlin bietet, sondern unzählige sich verzweigende Besucherpfade, Abkürzungen und Exkursionen. Das Neue dieser Medien sind ihre Ordnungsstrukturen, für die sich mittlerweile der Ausdruck “rhizomatisch” eingebürgert hat. Zurückgehend auf Gilles Deleuze wird diese Metapher aus der Botanik entlehnt.1 Im Unterschied zur linearen Wurzel eines Baumes kann ein rhizomatisches Wurzelwerk aus vielen Stellen seiner verzweigten Struktur austreiben. Bezogen auf Information repräsentiert das neue Denkbild einerseits den…