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Titel: Autor*innenschaft. Aneignung. Identität. - Aneignung · von Michaela Ott · S. 140 - 149
Titel: Autor*innenschaft. Aneignung. Identität. - Aneignung ,

Dividuation

Identitätskritik und Denkmalsturz
von Michaela Ott

Das Credo meines sich heranbildenden Selbstbewusstseins in den 1960er Jahren: Bloß nicht Deutsche zu sein! Deutsche werden zu wollen zeugte von Taktlosigkeit. Von Geschichtsvergessenheit, mangelnder Reflexion und Affizierbarkeit. Wie wollte frau auf dem Erbe eines der größten Menschheitsverbrechen, eingedenk weltmeisterlicher Instrumentalisierung der Vernunft, noch Einverständnis bekunden mit, Zugehörigkeit beanspruchen zu dieser Nation und ihrem Aufklärungsprojekt? Wie sollte sich Identität, Selbigkeit, begründen auf dem ererbten Ungrund von Mordslust, der Negation ethischer Minimalstandards, im Widerspruch zu allem, was gleichzeitig als Würde und Selbstbestimmung des Menschen nahegebracht wurde? Wie sollte eine deutsch Geborene ihr Haupt erheben gegenüber den Nachfahren der Hingemordeten, seien sie anderen Glaubens, anderer politischer Überzeugung, anderer Geschlechtszugehörigkeit gewesen? Identität, das zumindest trug sich unaustilgbar ein, wohnt ein Gewaltpotential inne, das Selbigkeit zu erstreben zwingend verboten erscheinen ließ.

Heikel wurde der Identitätsappell auch angesichts der Begegnung mit dem philosophischen Erbe, dessen Negations- und Vernichtungspotential nicht einmal von der Kritischen Theorie ausreichend hervorgekehrt erschien. Ein kaum mehr als kursorischer Blick auf Immanuel Kants Schriften genügte, um zu erschrecken darüber, dass der von ihm proklamierte Gemeinsinn als zugemutete spontane Zustimmung aller zur ästhetischen Wirkung überkommener Kunstproduktionen gewissen Bewohnern nicht-westlicher Kulturen dennoch nicht zugestanden worden ist? Wie sollte nicht deutlich werden, dass Kants Hochschätzung gewisser Zeugnisse europäischer Meisterschaft deren kulturbedingte Darstellungs- und Ausstellungstradition nicht mitreflektierte, mithin nicht einräumte, dass sie anders Kulturalisierten nicht plausibel sein könnte? Und wie ging all das mit der zeitgleich niedergelegten ersten philosophischen Rassentheorie in eins, in der weiße und rote Personen über schwarzen und olivgelben…

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