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Titel: Inszenierte Fotografie I · S. 94 - 95
Titel: Inszenierte Fotografie I , 1986

Die Welt als Fiktion – Die Fiktion als Welt

Der Streit dauert schon Jahrhunderte. Es waren im Mittelalter die Realisten, die glaubten, eine Handvoll festgefügter Wahrheiten, Ideen, bildeten das Gerüst der Wirklichkeit. Erschließen konnte man sich diese Ideen nur auf spekulativem Wege, konkret mit den Mitteln des Glaubens. Dagegen standen die Nominalisten mit ihrem Plädoyer für den Wert der menschlichen Erfahrung und der leisen Skepsis gegenüber unumstößlichen Gesetzesgewißheiten. Inzwischen halten wir in der Umgangssprache empirisch ausgerichtete Menschen für Realisten. Die Richtschnur ihres Handelns entnehmen sie dem, was sich, in welcher Form auch immer, nachweisen läßt. Der Geist einer solchen Einstellung hat die Fundamente für unser naturwissenschaftlich gefärbtes Weltbild am Anfang der Moderne geschaffen. Die Vorstellung von der Existenz einer objektiven Wirklichkeit ist eines der vielen Ergebnisse dieser Haltung. Einem Philosophen wie Immanuel Kant war derlei platter Pragmatismus stets suspekt. Die Fähigkeit, die Wirklichkeit zu erkennen, machte er von Urteilen abhängig, die nur ein menschliches Individuum fällen kann, allerdings aufgrund bestimmter erkenntnishistorischer Kategorien. Der heute im Zeichen eines sich ausbreitenden Konservatismus wieder häufig zitierte Anthropologe und Sozialwissenschaftler Arnold Gehlen ruft in seinem kundigen Buch über den Kubismus den Philosophen des frühen 19. Jahrhunderts zum Kronzeugen für die These auf, Picasso und Braque hätten seinen Erkenntnissen anschauliche Gestalt verliehen. Andere, nicht minder illustre Interpreten, allerdings eher mit kunsttheoretischem als philosophischem Besteck hantierend, hatten, ohne sich auf Kant zu beziehen, dem Anthropologen die Bahn gewiesen. Vor allem das Argument, die Kunst der Avantgarde sei im empirischen Sinne nicht zuletzt auch eine Reaktion auf die…

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