Die Sinne und das Problem der Hegemonie
Dieter Hoffmann-Axthelm
Der Stadtplan der Erinnerung
Alle Erinnerung ist räumlich. Erinnernd bin ich an einem Ort. Der Ort kann fern sein, sogar vergessen, er kann auch der Ort sein, an dem ich mich gerade befinde, durchsichtig geworden auf vergangenes Leben. Das Gedächtnis ist Container, Bibliothek, Lexikon. Das Erinnern ist lebendig gewordenes Gedächtnis, die nach Raum und Zeit entfaltete Bewegung des Lesens, das lebensgeschichtliche Abgehen der gespeicherten Spuren. Erinnerung haftet zwar, als Gedächtnis, assoziativ an Gerüchen, Bildern, Stimmen, Stimmungen, doch sobald sie zu sich kommt, bringt sie die einmal erlebten Räume herbei, in denen die auslösenden Reize ihren Sitz haben. Das Gedächtnis weiß, was ist und war. Das Erinnern, als aufgetautes Gedächtnis, drängt auf ein Wiedersehen der alten Orte.
Erinnerung folgt überhaupt einer räumlichen Bewegung – der des Begehens von Städten, eines Stadtplans. Schon der Behaviorismus wußte sich, als Konzept und Versuchsanordnung, Erinnerung nicht anders zu erklären denn als Abarbeiten von mental maps, inneren Stadtplänen. Erinnerung ist in der Tat immer innen und außen, sie braucht die Entsprechung von äußerer, gebauter, und innerer, mentaler, Grundrißlegung. Archaisch ist Natur das Nichterinnerbare, Undurchdringliche, sie wird erst als verstädterte, als Landschaft, überhaupt erinnerbar. Der Stadtgrundriß ist das primäre Gedächtnisinstrument der Gesellschaft, das es erlaubt, das Gewesene, das sonst ortlos spuken würde, in der Gegenwart anwesend zu machen.
Das Ensemble des Erinnerten hat Stadtform, und die Stadt hat – im kollektiven materiellen Gedächtnis des Stadtplans – Erinnerungsform. Sich alltäglich in der Stadt zu bewegen, ist ein Aufsuchen des Inneren, der Stadt der Erinnerung,…