Die noch stillen Stimmen des Archivs
von Rafael Cardoso
Die meisten Menschen wurden schon einmal vom Tod gestreift. Ein Ereignis, bei dem jede weitere Sekunde, wenige Zentimeter, eine unbedachte Entscheidung den Unterschied machten zwischen dem, was wir hier und heute lesen, und dem, was es heißt, ein Eintrag im Register zu werden. Solch ein Ereignis geht oft mit einem Adrenalinschub einher, der die Erinnerung an diese Episode in unser Gedächtnis einbrennt. „Ich werde das mein Leben lang nie mehr vergessen!“, ist die banale, aber tief empfundene Äußerung, um anderen diese Erfahrung möglichst anschaulich zu vermitteln. Wie bei den meisten Übertragungen von Gefühlen in Worte ist diese schlichte Wahrheit weder einfach noch wahr.
Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, müssen wir zugeben, dass es unmöglich ist, solche Erfahrungen zurückzuholen. Das Leben gerinnt zu Erinnerung, Bewusstsein zu Vergessen, Gegenwart zu Vergangenheit. So nahtlos, dass es unserer Wahrnehmung entgeht, wo das eine endet und das andere beginnt. Das Hochgefühl, dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein, verblasst zu einem Erinnerungsresiduum. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach dem, von dem wir glauben, dass es einmal war, getrübt durch eine unausweichliche Wahrnehmung von dessen Verlust.
Ist es überhaupt möglich, das zurückzugewinnen, was es einmal gegeben hat? Ist es nicht vorzuziehen Vergangenheit zu vergessen und weiterzumachen? Derart existenzielle Fragen stehen im Zentrum der mit der Gegenwart unbehagten Moderne – von Marcel Proust über Walter Benjamin bis W. G. Sebald. Weshalb nach der verlorenen Zeit suchen, das Durcheinander von Fragmenten ausgraben, Orte befragen, denen die zahllosen Verbindungen unbekannt sind,…