Die Lüge produziert Wahrheit
Vor rund hundert Jahren veröffentlichte Oscar Wilde eine Betrachtung über den Verfall der Lüge. Sie bestand in einem Dialog zwischen den Freunden Cyril und Vivian, welch letzterer bei dieser Gelegenheit aus einem Aufsatz zitiert.
Cyril: Was für ein Thema ist es?
Vivian: Ich will es “Der Verfall der Lüge: Ein Protest” nennen.
Cyril: Der Lüge! Man sollte meinen, unsere Politiker pflegen diese Gewohnheit.
Vivian: Wirklich, Cyril, das ist keineswegs der Fall. Sie bringen es nie weiter als bis zur Verdrehung der Tatsachen, und sie lassen sich obendrein noch auf langwierige Beweisführungen, Diskussionen und Rechtsgründe ein. Wie verschieden ist dagegen die Gesinnung des echten Lügners, mit seinen freimütigen, furchtlosen Behauptungen, seiner stolzen Verantwortungslosigkeit, seiner gesunden, natürlichen Verachtung jeglicher Beweise.
Als echte Lügner in diesem Sinne haben Brigitte Caster und Barbara Westermann vor einem Jahr ein Stipendium erfunden, das sie großzügig gleich über 60 Personen des öffentlichen Lebens anboten, seriösen Professoren und arrivierten Künstlern, respektablen Architekten, bekannten Schriftstellern und Musikern. Ihnen wurde unter einem professionellen Briefkopf vorgegaukelt, in Kassel stünde ein siebenstöckiger Elfenbeinturm, der nur darauf warte, vom Adressaten des Schreibens auf Dauer von fünf Jahren bezogen zu werden, weshalb um Vorschläge für die Innenausstattung gebeten werde, wobei Geld keine Rolle spiele. Diese Parodie auf das grassierende Modell des artist in residence war Bestandteil ihres Ausstellungsprojektes Elfenbeinturm, die Antwortbriefe wurden auf einer Wand gesammelt vorgestellt. Eine Auswahl dieser Antwortbriefe ist im folgenden, zusammen mit dem Einladungsschreiben, abgedruckt, und wenn auch die Lüge keiner Rechtsgründe bedarf, so vielleicht doch die…
