Thomas Günther
Die Lesung an der Wand: – und danach Party
EIN PORTRÄT DES AUSSTELLERS JÖRG DELOCH
Die Gäste strömen zuhauf in die Schönhauser Allee 50. Eröffnungen am Samstagabend sind zum beliebten Ritual geworden. Durch einen verrotzten Hausflur über einen schmuddeligen Hinterhof, der mit einem abgestellten halben Auto keine Verwechslung zuläßt, gelangt der Besucher zu einem noch verrotzteren Treppenaufgang im Quergebäude. Unten rechts an den Stromzählern steht etwas von einem Strangprogramm der Kommunalen Wohnungsverwaltung. Bitte, wer oder was soll hier stranguliert werden, fragt sich der unschuldige Leser. Ich war nie in New York gewesen, aber den kurzen Weg von der Hauptstraße zum Ausstellungsraum könnte ich mir in Brooklyn ähnlich vorstellen. Oder im Südosten Londons, den ich zum Vergleich kenne. Auch in der globalen Szene schmilzt die Welt zusammen.
Kurios ist, daß an diesem Abend keine Bilder hängen.
Draußen auf der Schönhauser lauern ein paar Polizisten, und hinter der Wohnungstür im zweiten Stock ist die Luft zum Zersäbeln dick. Freunde und Fremde kommen, Neugierige, schrille Vögel und graue Gesichter, Beobachter der Szene und Zuträger staatlicher Organe. Und einfach nur Gelangweilte; eben normales Publikum Ende der 80er Jahre im Prenzlauer Berg, Berlin. An einer der kahlen Wände steckt eine Postkarte, provisorisch mit einer Reißzwecke. Darauf steht, fast bis zur Unkenntlichkeit zerkritzelt: DIE GEDANKEN SIND FREI – darunter auf grünem Papier in Klammern: bitte nicht stehlen.
Einige der Gäste sind irritiert, manche geben sich amüsiert, andere beachten die Postkarte überhaupt nicht und sind nur an den Mit-Anwesenden interessiert. Die Gesichter scheinen zu zählen, nicht die Bilder; eine Vernissage,…