David Lynch
Die Kunst der Übersetzung
Ein Gespräch mit Michael Stoeber anlässlich der Verleihung des Goslarer Kaiserrings
Der 1946 in Missoula, Montana, geborene David Lynch ist als Filmregisseur weltberühmt. Unvergessen bleibt sein Zoom in der Eingangszene von „Blue Velvet“. Das Kameraauge erfasst die glänzenden Fassaden einer amerikanischen Kleinstadtidylle, fährt über den satten, grünen Rasen eines Vorgartens mit bunten Blumen und gräbt sich dann unter die Oberfläche in das finstere Erdreich. Dort herrscht Krieg. Die in ihm beheimateten Maden und Würmer führen das ewige Schauspiel vom Werden und Vergehen und vom Überleben des Stärkeren auf. Die Szene lässt sich emblematisch lesen für das Werk des Künstlers, der das dunkle Schattenreich unserer verdrängten Triebe und Obsessionen nicht nur in seinen Filmen ausleuchtet, sondern auch in seinen weniger bekannten Gemälden. Als Maler hat Lynch seine Karriere begonnen, und trotz seiner großen Filmerfolge hat er nie aufgehört, als bildender Künstler tätig zu sein. Über die Jahre hat er auf diese Weise ein umfangreiches Werk aus Gemälden, Fotografien und Lithografien geschaffen. Dafür ist er im Oktober 2010 mit dem renommierten Goslarer Kaiserring ausgezeichnet worden. Obwohl dieses Werk in den letzten Jahren stetig gewachsen ist und weltweit in angesehenen Kunstinstituten gezeigt wurde, ist der Preis für David Lynch Verpflichtung, sich in Zukunft noch stärker als bisher auf seine Karriere als bildender Künstler zu konzentrieren. In Goslar versprach er den Medienvertretern im Mönchehaus Museum bei der obligatorischen Frage nach der Bedeutung des Rings für ihn, „statt mit 5 Meilen Stundengeschwindigkeit ab sofort mit 60 Meilen in der Stunde vorwärts zu eilen.“
Michael Stoeber: David, es ist bekannt, dass Sie sich weigern, Ihre eigenen Werke zu deuten oder zu erklären. Der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno hat einmal geschrieben, ein gutes Kunstwerk sei klüger als sein Autor. Trotzdem … .
David Lynch: (lacht) Und ich sage Ihnen den Grund dafür. Hier ist meine Theorie: Als Künstler versucht man stets, seine Ideen in ein Kunstwerk zu übersetzen. Jetzt stellen Sie sich diese Ideen als Noten in einer Partitur vor. Wenn man als Künstler seinen Ideen treu bleibt und sie in eine perfekte Melodie übersetzt, dann erscheinen sie auch als wahr. Ihr Sinn hat wesentlich mit ihrer Form zu tun. Die gelungene Form spiegelt dem Betrachter immer wieder neu ein Mehr an Sinn zurück. Um im Bild zu bleiben: Weil die Melodie der Musik so perfekt ist, eröffnet sie immer neue Perspektiven auf sich. Man merkt das möglicherweise nicht gleich. Aber bei jedem neuen Hören kommt es zu neuen Erfahrungen. Es geht um die Idee und um ihre Übersetzung ins Kunstwerk.
Trotzdem hören die Menschen nicht auf, Sie nach Deutungen zu fragen. Ist das intellektuelle Trägheit, oder sind manche Ihrer Werke so kompliziert und hermetisch, dass sie ohne Übersetzungshilfe nicht zu verstehen sind?
Wenn mir eine Idee zu einem Werk kommt, weiß ich oft selbst nicht, was diese Idee bedeutet. Ich denke über sie nach, und plötzlich macht sie Sinn für mich. In dieser Perspektive stelle ich sie dar. Wissen Sie, Michael, es gibt so viele Dinge im Leben, die in ganz unterschiedlicher und abweichender Weise gesehen und erklärt werden können. Warum sollte es mit meinen Filmen anders sein? Es gibt sicher nicht nur eine Wahrheit über sie. Im Allgemeinen sind gute Filme nicht schwer zu verstehen. Wenn sie allerdings sehr abstrakt sind, ist es schwieriger. Aber ich glaube, mein Werk ist nicht so schwierig, dass man als Betrachter nicht damit zurecht kommen könnte.
Um Probleme zu lösen, verlässt sich Special Agent Cooper in Ihrer Fernsehserie „Twin Peaks“ gleichermaßen auf seinen Intellekt und seine Intuition. Wovon braucht es mehr, um zu verstehen, was Sie als Künstler tun?
Intuition. Die Intuition ist klüger als der Intellekt, weil sich in ihr Verstand und Gefühl mischen. Wenn ich mir die Intuition als Farbe vorstelle, dann ist sie violett, eine Mischfarbe aus blau und rot. Wobei das Blau oben steht und den Geist repräsentiert, und das Rot unten und das Gefühl darstellt. Das Violett ist die Farbe des Wissens um die Dinge. Und jeder von uns hat diese Farbe in sich und damit das Wissen. Wir müssen es nur ergründen.
Das ergäbe ja vielleicht noch einen weiteren Deutungsansatz für Ihren Film „Blue Velvet“. Doch danach frage ich Sie lieber nicht. Aber nach dem Verhältnis von Traum und Realität, Wirklichkeit und Fiktion in Ihren Werken. Oscar Wilde hat einmal gesagt: „Nur der ist Realist, der zu träumen versteht.“ Träumen Sie viel?
Sehr viel. Aber ich erinnere mich nur selten oder schwer an meine Träume. Anders ist das mit meinen Tagträumen. Manche Menschen glauben, was wir für wirklich halten, sei in Wahrheit nur ein Traum.
Worauf in „Mulholland Drive“ der Zwischenruf in spanischer Sprache verweist: „No hay banda.“ Es gibt keine Band, kein Orchester, keine Live-Musik. Das Ganze ist lediglich eine Aufzeichnung, eine Fiktion.
Die Analogie dafür ist die Schlange und die Schnur. Manche Menschen sehen eine Schlange, erschrecken sich und springen zurück. Aber es ist nur eine Schnur. Und manche schätzen unglücklicherweise die Schlange falsch ein und halten sie für harmlos.
Wandern Ihre Träume in Ihre Filme?
Nein, in meinen Filmen geht es um Ideen. Aber als Künstler liebe ich die Traumlogik, die herkömmliche Kausalitäten in Frage stellt. Na ja, manchmal komme ich durch meine Tagträume zu Ideen. Ganz selten auch durch einen Nachttraum. In „Blue Velvet“ hatte ich lange keine Vorstellung davon, wie der Film enden sollte. Eines Tages bei einer geschäftlichen Verabredung, als ich noch auf meinen Gesprächspartner wartete, fiel mir mein Traum der letzten Nacht wieder ein. Ich schrieb ihn auf – und das war´s (Schnippt mit dem Finger). Aber das kommt ganz selten vor.
Die Surrealisten schätzten für ihre Werke den Traum und das Unbewusste. Fühlen Sie sich Ihnen als Künstler nah?
Ja und nein. Die Surrealisten waren von Freud und Jung beeinflusst, und für sie hatten Träume oft mehr Bedeutung als die Wirklichkeit. Das ist bei mir anders. Aber ich finde wunderbar, was sie für Techniken entwickelten, um zu Ideen zu kommen. Wie sie den Zufall als Ideengeber mit in ihre Werke hineinnahmen. Wie sie irgendwelche Dinge in die Luft warfen, würfelten oder die Art, in der sie miteinander kommunizierten. Alles, um zu neuen Ideen für ihre Werke zu kommen. Ich finde großartig, wie sie ihr Bewusstsein auszutricksen versuchten, um kreativ zu sein. Das bewundere ich sehr. Aber im Grunde weiß ich nicht sehr viel über sie. Wen ich unter ihnen vor allen mag, das ist Magritte. Ich liebe die Paradoxien und Absurditäten in seinen Bildern. Die haben immer etwas von der programmatischen Parademetapher der Surrealisten. Wie war sie doch noch?
Sie meinen die Begegnung der Nähmaschine und des Regenschirms auf einem Operationstisch?
Genau! Unterschiedliche, ganz weit entfernte Wirklichkeiten werden in einem Bild zusammen gezogen, das im ersten Augenblick keinen Sinn zu machen scheint. Und nimmt man es genau unter die Lupe, dann wird es irgendwann im Gegenteil sehr sinnvoll.
Haben Sie für sich Techniken entwickelt, um als Künstler kreativ zu werden?
Nicht wirklich.
Können Sie sich denn in eine Stimmung bringen, die ihrer künstlerischen Arbeit zuträglich ist.
Wie Sie wissen, meditiere ich seit 37 Jahren. Und in der Meditation komme ich zu mir selbst. Sie macht es mir möglich, Energien zu mobilisieren. Und durch sie kommen sicher auch die Ideen für meine Kunst leichter zu mir.
David, Sie wurden vor 64 Jahren in Missoula, Montana, geboren. Ist das ein guter Ort, um Künstler zu werden.
Aus Missoula sind meine Eltern weggezogen, als ich zwei Monate alt war. Wir sind dann nach Idaho und später nach Washington gegangen. Dort im östlichen Washington sind die Luft und das Licht ganz wunderbar. Nie in meinem Leben werde ich diese Luft und dieses Licht vergessen. Der Himmel war tiefblau, und in den frühen fünfziger Jahren flogen Propellerflugzeuge durch die Luft. Ganz langsam. Alles war viel langsamer als heute. Wie ein schöner Film in Slow Motion.
Was Sie erzählen, erinnert mich an die Geschwindigkeit und den Zeittakt in Ihrem Film „The Straight Story“, dessen Erzählung sich langsam und linear vollzieht. Er ist ein außerordentliches Zeugnis von Mitgefühl, Solidarität und Humanität. Ein ganz wunderbarer Film und eher untypisch für die sprichwörtliche Lynch-Welt „voller Dunkelheit und Verwirrung“. Ich habe den Eindruck, dass Sie die Bilder, die Sie gerade beschrieben haben, in gewisser Weise auch in diesem Film beschwören?
Nein, da täuschen Sie sich. Manchmal führen solche Bilder in meinem Kopf zu Ideen, und diese Ideen bestimmen dann wiederum meine Filme oder Malerei. Aber es geht bei dem, was ich als Künstler mache, nie um eine Übersetzung biographischer Erlebnisse, sondern immer darum, meinen Ideen eine bestimmte Form zu geben. Das trifft auch auf die Fernsehserie „Twin Peaks“ zu, die ja gleichfalls in ländlicher Umgebung spielt. Auch da gab es in der Landschaft und in dem Ort Twin Peaks Dinge, die mich an meine Kindheit erinnerten, aber ich habe meine Kindheit nicht benutzt, um den Bildern des Films ihre Form zu geben.
Wenn Missoula und auch kein anderer Ort für Sie eine Rolle spielten, um Künstler zu werden. Wer oder was hat denn Ihren Wunsch danach befördert?
Ganz wichtig war meine Mutter. Wissen Sie, Michael, als kleiner Junge habe ich gerne gezeichnet. Aber meine Mutter hat sich geweigert, mir Malbücher zu kaufen, wofür ich ihr unendlich dankbar bin. Stattdessen brachte mir mein Vater Papier zum Zeichnen aus seinem Büro mit. Es war einseitig beschrieben und als gebraucht aussortiert worden. Er brachte es mir also mit, und ich malte auf den Rückseiten. Wie verrückt! Das war nach dem Krieg. Ich malte Kanonen und Bomben, Flugzeuge und Panzer. Mein absolutes Lieblingsmotiv war ein automatisches Maschinengewehr von Browny. Zeichnen und Malen empfand ich als fantastisch. Aber ich war der festen Meinung, das könne man nur als Kind tun und nicht mehr als Erwachsener. Als ich herausfand, dass dies doch möglich ist, änderte sich mein Leben von Grund auf. Damals war ich vierzehn Jahre alt.
Wie haben Sie es herausgefunden?
Ich stand im Vorgarten des Hauses meiner Freundin. Es war zehn Uhr abends und vorbei kam ein Junge, der Toby Keeler hieß. Er war in meinem Alter. Er besuchte eine Privatschule, ich eine öffentliche Schule. Wir fingen ein Gespräch an, und er erzählte mir, dass sein Vater ein Maler sei. Als ich das hörte, dachte ich, er sei ein Anstreicher. Aber er korrigierte mich. Nein, nein, er sei ein Künstler. Bis dahin war mir nie in den Sinn gekommen, dass man vom Malen auch leben könnte. Ich hatte immer geglaubt, es sei eine Beschäftigung für Kinder, nicht für Erwachsene.
Mochten Sie, was sein Vater malte?
Bushnell Keeler hatte einen enormen Einfluss auf mein Leben. Ich besuchte ihn einige Tage später in seinem Atelier und wollte nichts anderes mehr in meinem Leben sein als ein Maler. Ich mietete ein Zimmer hinter seinem Atelier und fing an, dort zu malen, und habe bis heute nicht mehr aufgehört damit.
Nach dem Besuch der Schule und der Boston Museum School schrieben Sie sich als Student der Malerei an der Pennsylvania Academy of Fine Arts in Philadelphia ein. Wie kamen Sie zum Film?
Der Film entwickelte sich für mich aus dem Studium der Malerei. Was ich ursprünglich wollte war, Maler zu werden, ausschließlich Maler und nichts anderes. Ich wollte mein ganzes Leben der Malerei widmen. Nicht heiraten, sondern asketisch leben und nur arbeiten. Das erschien mir vollkommen. Absolut vollkommen. Am Ende habe ich viermal geheiratet, Kinder gezeugt und, wie Sie wissen, keineswegs nur gemalt.
Wie entwickelte sich der Film aus der Malerei, David?
Eines Tages malte ich in meinem Atelier an der Akademie einen Garten bei Nacht. Viel Schwarz und etwas Grün. Ich schaute auf das Bild, und plötzlich sah ich, wie sich in meinem Bild ein Wind erhob und das Grün sich bewegte. Das jedenfalls war mein Gefühl. Ich hatte ein sich bewegendes Bild gemalt. Mir kam es wie eine Offenbarung vor. Ich hatte den Eindruck, mich in Zukunft mit bewegten Bildern befassen zu müssen. Und als die Examen anstanden, baute ich eine Skulptur mit einer Projektion darin. Das war mein erster Schritt hin zum Film.
Das Fleisch der Malerei ist die Farbe. Ihre ersten beiden Filme in Spielfilmlänge „Eraserhead“ und „Elephant Man“ sind in Schwarzweiß. Haben Sie versucht, dabei Schwarz und Weiß in farbiger Weise zu benutzen?
(Lacht) Nein. Man sagt, dass der Schwarzweißfilm und die Schwarzweißfotografie schwieriger zu beherrschen sind als der Farbfilm. Farben grenzen sich wie von selbst gegeneinander ab. Schwarz und Weiß und die zwischen ihnen liegenden Grauwerte hingegen muss man viel sorgfältiger komponieren. Man muss dabei mit Licht plastisch arbeiten, was ein riskantes Unternehmen ist. Aber all das war nicht der Grund, Schwarzweiß zu wählen. Sondern es gibt Filme, die müssen einfach in Schwarzweiß gedreht werden, während andere Filme Farbe brauchen. Schwarzweißfilme haben etwas Magisches. „Eraserhead“ und „Elephant Man“ sind Schwarzweißfilme, „Blue Velvet“ dagegen ist ein ausgesprochener Farbfilm. Das macht schon der Titel deutlich. In Schwarzweiß hätte er nie funktioniert. Schwarzweiß ist viel abstrakter als Farbe und führt einen ein Stückweit fort von der Realität und fast automatisch in der Zeit zurück.
Wenn Sie Farbfilme drehen, schauen Sie dann mit den Augen eines Malers auf die Farbe?
Ganz sicher. Ich kann gar nicht anders. Vieles von dem, was für ein Gemälde richtig ist, stimmt auch für eine Fotografie oder einen Film. Daher schaue ich auf die Bilder eines Filmes mit denselben Augen wie auf eine Malerei. Vielleicht nicht so ausdauernd, weil die Entwicklung der Bilder in der Zeit eine große Rolle spielt.
In ihren Filmen geben Sie dem Betrachter die Chance, sich in Ihre Szenen einzusehen.
Jedes Ding will auf eine bestimmte Weise sein. Im Film übersetze ich Ideen in Stimmungen und Gefühle. Wenn ich eine Szene drehe, muss sie angemessen wiedergeben, was ich ausdrücken will. Das ist wie in der Musik. Oft spielen Orchester die großartigsten Stücke viel zu schnell. Das geht auf Kosten ihrer Schönheit und Kraft. Aber auch wenn man zu langsam ist, passiert das. Man muss für jede Idee, die man ausdrücken will, den angemessenen Rhythmus finden. Manche Sequenzen müssen schnell und wild sein, andere langsam und träumerisch.
Wie wichtig ist der Raum für Sie?
Ganz wichtig. Ebenso wichtig wie die Zeit. Der Charakter eines Ortes kann für einen Film entscheidend sein. Er muss sich perfekt mit der Handlung und den Personen verbinden. Wenn man den entsprechenden Raum nicht findet, muss man ihn bauen. Sehr wichtig ist auch das Sound Design, um die klanglichen Stimmungen zu formen, die zu den Bildern passen. Bei allen Dingen müssen die Proportionen stimmen. Das Maß der Verteilung. In der Malerei geht es für mich ebenfalls ganz wesentlich um Proportion. Schon bei der Wahl des Bildformats. Auch das hängt von der Idee ab, die ich darstellen will. In einem kleinen Bild arbeite ich anders als in einem großen. Genauso ist es im Film. Ob ich eine Nahaufnahme wähle oder einen Weitwinkel hängt davon ab, was ich zum Ausdruck bringen möchte. Es geht immer darum, Ideen adäquat in Bilder zu übersetzen. Zeit, Raum und Klang formen die Dinge in unterschiedlicher Weise.
Als Maler arbeiten Sie allein, als Regisseur im Team. Was ist Ihnen lieber?
Ich arbeite am Liebsten allein. Aber im Film geht das nun einmal nicht. Also versuche ich, mich hier wie da auf das zu konzentrieren, worum es mir geht: Ideen und Gefühle so präzise wie möglich ins Werk zu setzen.
Sie sprechen immer wieder über die Ideen und Gefühle, die Sie in Ihren Werken thematisieren. Welche sind das?
Das ist ganz unterschiedlich. Ich habe Ideen über Menschen und Dinge und über die Welt, und die verdichten sich zu Geschichten. Zum Beispiel ist da die Idee, dass sich hinter Oberflächen Dinge verbergen. Als ich klein war, sah ich eine leuchtende Welt. Aber im Angesicht mancher Häuser hatte ich das Gefühl, dass dahinter dunkle, traurige Dinge geschahen. Wir fühlen solche Dinge, auch wenn wir sie nicht sehen. Und dann kommen die Ideen darüber. Und manchmal verlieben wir uns in sie. Und versuchen, etwas aus ihnen zu machen.
In Ihren Werken spielen Geheimnisse und Rätsel eine große Rolle. Warum?
Jeder Mensch mag Geheimnisse. Das Leben ist voller Geheimnisse. Und wir wollen ihnen auf den Grund gehen. Manche Geheimnisse sind banal, wenn wir sie erst einmal gelöst haben, andere lassen uns fliegen.
Sie lieben es, wenn Menschen aus dem Dunkel treten. Ist das metaphorisch zu verstehen?
In erster Linie hat es mit Ästhetik zu tun. In „Lost Highway“ gehen Menschen ins Dunkle und verschwinden oder kommen aus dem Dunkel und erscheinen. In „Blue Velvet“ ebenso. Was ich daran so liebe, weiß ich eigentlich nicht. Aber die Einstellungen geben dem Dunkel eine Form, und es ist sehr schön, wenn sich die Menschen materialisieren. Irgendwie ist es aber auch so, das sehen Sie ganz richtig, als ob die Menschen dabei aus der Negativität in die Positivität gehen.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kunst und Gewalt?
Die Kunst hängt mit allem zusammen, was es in der Welt gibt und was in ihr vorgeht. Die Ideen kommen aus der Welt, und die Welt ist voller Gewalt. Dass Filme Gewalt stimulieren, halte ich für kompletten Unsinn. Anders herum wird ein Schuh draus. Aber es gibt so vieles in der Welt: Neben allen Arten von Konflikten und Widersinnigkeiten eben auch die Liebe. Und von all dem kann sich ein Kunstwerk thematisch nähren. Als das enthält es eine Idee und ergibt eine Geschichte, die man als Künstler erzählen kann.
Gehört zu diesen Ideen auch die Vorstellung, dass Glück und Unglück im menschlichen Leben nah beieinander liegen? Schaut man auf Ihre Werke, ob Film oder Malerei, hat das Grauen oft Slapstickcharakter. Das erinnert an Beckett, der gesagt hat, nichts sei komischer als das Unglück, oder an Kafka, der beim Vorlesen seiner Erzählungen oft laut gelacht haben soll.
Ach. Das wusste ich nicht von Kafka. Das ist ganz wunderbar. Ja, wir lachen am Morgen und weinen am Abend.
Für Hitchcock waren Schauspieler vor allem Material, um seine Vorstellungen umzusetzen. Wie ist Ihr Verhältnis zu ihnen?
Die Schauspieler sind sehr wichtig. Sie tragen die Idee des Films. Bis es allerdings dazu kommt, ist es ein oft langer Prozess. Man muss sehr viel mit ihnen sprechen, bis sie sich die Idee so zueigen gemacht haben, als ob es ihre eigene wäre. Nur wenn das gelingt, gelingt auch der Film.
David, Sie sind Maler und Regisseur, Drehbuchautor und Produzent, Komponist und Comiczeichner. Was verbindet diese unterschiedlichen Tätigkeiten?
Ideen.
Neun Jahre lang haben Sie, was hierzulande wenig bekannt ist, für eine amerikanische Tageszeitung einen Comic gezeichnet und den Text dafür geschrieben. Sie begannen damit, als sie „Eraserhead“ drehten. Der Comic heißt „The Angriest Dog in the World“. Was für ein Hund ist das?
Ein Opfer.
Eine Identifikationsfigur für den Leser?
Genau. Wie der Hund steht er den Ereignissen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eher als sie Erleidender denn als Eingreifender gegenüber. In der Welt gibt es so viel Negatives, Ungerechtigkeiten und Absurditäten. Und wir fühlen uns oft hilflos und haben nicht die Kraft, das zu ändern.
Das ist eine Vorstellung von der Welt, die nicht so weit entfernt ist von der Ihrer Filme und Gemälde. Und auch nicht von der des britischen Malers Francis Bacon, den Sie sehr bewundern. Weshalb?
Weil sein Werk so viel Kraft hat und so viel Neues entwickelt. Bacon ist ein Künstler für Künstler. Seine Bilder sind von unglaublicher Intensität.
Das Thema der Deformation spielt in Bacons Werk wie auch in Ihrem eine große Rolle. Vielleicht, weil wir Menschen uns inkomplett fühlen? Nicht notwendig als Individuum, aber als Spezies?
Als Spezies? Ja, ich glaube, das Gefühl einer gewaltigen Deformation liegt in der Luft. Einer wirklich gewaltigen Deformation, die alle Bereiche unserer Existenz bedroht.
Ein anderer, über den Sie bewundernd sprechen, auch er ein Meister in der seismografischen Erfassung von Deformationen, ist Franz Kafka. Sie fühlen sich ihm so nah wie einem Bruder, haben Sie einmal gesagt. Was bedeutet Ihnen sein Werk?
Ich mag das Gefühl, das ich habe, wenn ich seine Bücher lese.
Und wie ist es?
Grandios. Es geht ja eigentlich um ganz alte Dinge bei ihm. Um Geheimnisse, Rätsel, Furcht, Gewalt, Paranoia, Ungerechtigkeit, Missverstehen, Sorge, Verlorenheit. Aber wie Kafka darüber schreibt, ist einzigartig. Absolut aufregend und vor allem – wahrhaftig.
Wenn Sie sein Werk beschreiben, beschreiben Sie zugleich Ihres, wie ich finde. Insofern stimmt das brüderliche Gefühl.
Michael, ich liebe Sie für diese Einschätzung. Na ja, ich weiß natürlich nicht, ob Kafka mich gerne als Bruder gehabt hätte. Ich ihn schon. Wie alt war er, als er starb? Wissen Sie es?
Ich glaube, er war 41 Jahre alt.
Sehr jung.
Ja. Viele Protagonisten Ihrer Werke sind gespaltene Persönlichkeiten. Ist das ein modernes Phänomen? Die Signatur unserer Zeit?
Das glaube ich nicht. Die Menschen hatten zu allen Zeiten unterschiedliche Persönlichkeiten in sich. Es ist eher eine Frage der Umstände und der Kommunikation, wer sich in uns zeigt. Manche Menschen bringen das Beste in einem zum Vorschein, andere das Schlechteste. Das ist schon sehr seltsam.
Auch Ihr Werk hat unterschiedliche Facetten. Es gibt den Lynch von „Blue Velvet“ und den Lynch von „The Straight Story“. Inwieweit sind all ihre Werke am Ende Elemente eines Selbstporträts?
Überhaupt nicht! In keiner Weise! Ich bin nicht mit einer einzigen Person meines Werks zu identifizieren. Ich habe mich in die Ideen dieser Werke verliebt, so dass ich Lust hatte, sie zu schaffen. Aber sie haben nicht das Mindeste mit dem zu tun, wer und was ich bin. Zumindest glaube ich das.
David, Sie haben wiederholt gesagt, wir Menschen irren in „Dunkelheit und Konfusion“ herum. Bringen uns Ihre Werke Licht und Klarheit?
In keiner Weise. Das ist auch nicht ihr Ziel. Sie haben nur das eine Ziel, eine bestimmte Idee künstlerisch zu übersetzen. Sie stehen nur für sich selbst ein. Schauen Sie, Michael, wir sitzen hier im Garten des Goslarer Museums unter einem Baum. Meine Werke wollen wie Bäume sein. Ein Baum steht auch nur für sich selbst ein. Er hat nichts mit Dunkelheit und Klarheit zu tun. Aber er ist sehr, sehr schön. Wir müssen diese Schönheit nur entdecken.
1946 geboren in Missoula, Montana. Lebt und arbeitet in Los Angeles.
Ausbildung
1963-1964 Corcoran School of Art, Washington; 1964-1965 Boston Museum School; 1965-1967 Pennsylvania Academy of the Fine Arts.
Einzelausstellungen (Auswahl)
1987 Rodger LaPelle Galleries, Philadelphia; 1987 James Corcoran Gallery, Los Angeles; 1989 Leo Castelli Gallery, New York; 1990 James Corcoran Gallery, Los Angeles; 1990 N. No. N. Gallery, Dallas; 1991 Touko Museum of Contemporary Art, Tokyo; 1992 Sala Parpallo, Valencia; 1993 James Corcoran Gallery, Los Angeles; 1995 Kohn/Turner Gallery, Los Angeles; 1996 Artium, Fukuoka; 1996 Namba City Hall, Osaka; 1996 Park Tower Hall, Tokyo; 1997 Galerie Piltzer, Paris; 2001 Printemps de Septembre, Toulouse; 2001 Centre de Cultura de Barcelona, Barcelona; 2004 Atlas Sztuki, Lodz; 2007 La Triennale di Milano, Mailand; 2007, Fondation Cartier, Paris; 2007 Galerie du Jour, Paris; 2008 Galerie Ammann, Locarno; 2008 Scuola Romana di Fotografia, Rom; 2009 Galerie Pfefferle, München; 2009 Garage Center for Contemporary Culture, Moskau, 2009 Cultural Foundation Ekaterina, Moskau; 2009 Michel Kohn Gallery, Los Angeles, 2009 Griffin, Los Angeles, 2009 Max Ernst Museum, Brühl, 2010 Mönchehaus Museum für Moderne Kunst, Goslar.
Preise
1980 für „Elephant Man“ vier Auszeichnungen von der British Academy of Film and Television Arts (BAFTA); 1990 für „Wild at Heart“ die Goldene Palme in Cannes als bester Film; 2001 für „Mulholland Drive“ Auszeichnung in Cannes als bester Regisseur; 2006 für „Inland Empire“ Auszeichnung in Cannes als bester Regisseur; 2010 Kaiserring in Goslar für das künstlerische Werk.