Michael Hübl
Die Gestutzten
Hier ein Engel – dort ein Bahnhof:
Aspekte des Verlusts. Fast eine Glosse
Ein Fall für Peggy Guggenheim: Auf einem Friedhof wurde einer Figur mit Engelsflügeln gewaltsam der Penis entfernt. Die Kunst-Entmannung hat offenbar unterschwellige Gender-Diskussionen ausgelöst. Denn der Urheber des geschändeten Grabschmucks ging schon bald nach der Skulpturalkastration auf die sexuelle Disposition höherer Wesen ein. Dabei entschied er sich klipp und klar für das eigene Geschlecht: „Ein Engel ist nun mal männlich – soll ich ihm ein Höschen anziehen?“ 1, erklärte der Modedesigner Wolfgang Joop, der den nackten Flügelmann zu Ehren seines verstorbenen Vaters entworfen hatte.
Eine knappe und kategorische Aussage. Wie aus Granit gemeißelt. Und zugleich ein Steinbruch für Mutmaßungen, Assoziationen, offene Fragen. Aus marktwirtschaftlicher Perspektive beispielsweise rückt die Beteiligung des Modemachers an dem Unterwäschehersteller „Schiesser“ ins Blickfeld: Just zwei Wochen vor der Engelsverstümmelung hatte Wolfgang Joop eine Minderheitsbeteiligung bei der badischen Leibwäschemarke übernommen. War der genitalfixierte Ikonoklast, der auf dem Bornstedter Friedhof zu Potsdam sein destruktives Werk vollzog, womöglich ein Feinripp-Feind? Hat es da einer als Verrat am hippen Label Joop empfunden, dass sich der agile Bekleidungsunternehmer einem Produkt zuwandte, an dem das Image eines anti-erotischen Biedermann-Textils haftet („Schiesser“ ist für Spießer)? Und hat sich der Täter vielleicht deshalb am künstlerisch gestalteten Unterleib vergangen, weil er (seinem Idol?) Joop signalisieren wollte: Schneider bleib bei deinen Nähten und begib dich nicht in Feuchtgebiete. Aus psychologischer oder ideologischer Sicht wäre auch denkbar, dass sich jemand in seinen religiösen Gefühlen verletzt fühlte, dass er das Engelsglied, diesen…