Peter Strasser
Die Geste Kadosch
Vilém Flusser, 1920-1991
Für das “herbstbuch”, das theoretische Organ des “steirischen herbstes”, schreibt Vilém Flusser 1990 einen Programm-Essay. Die neue Intendanz will das sieche Avantgardefestival der Stadt Graz revitalisieren, will es von der verstaubten Bürgerschreckfixierung befreien und sich zu einer Art “intelligentem Produkt” mausern lassen. Flusser schreibt zum Thema “Eine Nomadologie der Neunziger”. Es ist dieses Thema, das Flusser und mich zusammenführt.
Wir fassen Vetrauen zueinander, was bei Flusser bedeutet, daß wir sehr viel, um nicht zu sagen: ununterbrochen, miteinander reden und diskutieren, abzüglich der Zeit, in der mir Flusser lange Vorträge über Gott und die Welt hält, teilweise übrigens in fremden, bisweilen recht abgelegenen Sprachen. Zu einem Thema freilich scheint uns nichts einzufallen – zur Kunst.
Das hat, denke ich, auf seiten Flussers damit zu tun, daß ihn das, was heute als Kunst noch immer einen Sonderstatus gegenüber allen anderen menschlichen Produktionen beansprucht, nicht sonderlich interessiert. Hinter diesem Desinteresse an autonomer Kunst steckt bei Flusser die Überzeugung, daß es die Geste der Kunst – im Widerspruch zu anderen Gesten der poiesis, der schöpferischen Tätigkeit des Menschen1 – gar nicht gibt. (Jene angeblich einzigartige Geste der Kunst ist wohl die Erfindung von Leuten, die, zunächst ohne Ansehen und Macht, aus ihrem “Künstlersein” ein quasi priesterliches Positionsgut kreierten.)
Flusser setzt denn auch oft, in einer geradezu provokativ kommentarlosen Weise, Kunst, Technik und Wissenschaft gleich. So etwa, wenn er den Menschen mit der Herstellung von Faustkeilen, die als “künstliches Gebiß” den natürlichen Zähnen assistieren, zum Künstler werden läßt.2 Oder wenn er uns…