Michel Serres:
Die fünf Sinne
Eine Philosophie der Gemenge und Gemische
Welcher Sache gilt die Erinnerung? Was ist so zerbrechlich, so leicht zu vergessen, daß man seiner immer wieder gedenken muß, um es nicht aus dem Gedächtnis zu verlieren? Es ist dies: Der Wein geht von Hand zu Hand. Jeder empfängt den Kelch, trinkt daraus, gibt ihn an seinen Nachbarn weiter. Durch den kreisenden Wein wird er zu einer Station und zu einem Motor der Zirkulation. Und die Zirkulation beschreibt die Gruppe, folgt dem Faden der Beziehung. Der Kelch, dieses Quasiobjekt, zeichnet die Beziehungen zwischen den Aposteln nach, wie der Ring auf der Schnur, wenn das Frettchen läuft; er trägt, knüpft, objektiviert, was die Gruppe oder die zwölf eint. Der Kelch macht bei Andreas, Jakobus oder Johannes halt und wird weitergereicht: die kollektive Beziehung hält ein und setzt sich fort. In jedem von ihnen stirbt die Gruppe, um sogleich wiedergeboren zu werden. Jeder Apostel nimmt und gibt. Nimmt Wein, trinkt oder kostet. Und gibt. Gibt sein Individuationsprinzip, das der Wein ihm gegen seinen Willen entreißt. Jeder gibt in den Kelch oder den Wein jene Identität, die der Wein dem nimmt, der von ihm kostet. Der kreisende Kelch füllt sich mit der Individualität der einzelnen, nimmt im Vorübergehen die Subjekte auf, und dies um so leichter, als die Süßwasserschiffer oder Steineklopfer, Söhne des Volkes und Männer von nichts, Bauern, Matrosen, Pilger, Franziskaner vor der Zeit, nicht so sehr an ihrem Subjektsein festhalten, daß sie nicht höflich davon ließen: Nicht lange behalten sie den Kelch…