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Fragen zur Zeit · von Michael Hübl · S. 24 - 27
Fragen zur Zeit , 2015

Michael Hübl
Die Farbe der Wahrheit?

Dorian Gray, Christian Grey, ein grauer Panda und die düstere Schattenseite Norwegens

Grau war die Farbe eines trüben Vorfrühlings. Kein stummes Grau wie in Brueghels Winterbild1, wo ein fahler, verhangener Himmel im Ungefähren lässt, ob die heimkehrenden Männer aus Scham schweigen oder ob ihnen harsche Eiseskälte die Sprache verschlagen hat; es ist eine ärmliche, halb erfrorene Beute, die sie als Nahrung nach Hause tragen. Es war kein stummes, aber auch kein laues, sondern ein lautes Grau in diesem schalen, unentschiedenen Vormärz des Jahres 2015. Es gab, bildlich gesprochen, viel Geschrei um dieses Grau und seine Schattierungen. Wobei die erregten bis abgeklärten Kommentare, ignoranten bis süffisanten Anmerkungen gar nicht einer Farbe, sondern einem Namen galten. Einem Namen, in dessen Klang die ästhetische Dämonie der Décadence vibriert. So wenig, wie in Jacques Derridas bekanntem Kunstwort ‚différance‘ der Unterschied zur real-enzyklopädischen ‚différence‘ 2 herauszuhören ist, so gering ist die Chance, allein über das Gehör zu erkennen, ob von Gray oder Grey die Rede ist. Wenn jetzt die milliardenschwere männliche Hauptfigur der Trilogie „Fifty Shades of Grey“3 von Erika Leonard (die sich E.L. James nennt) zur Sprache kam, dann stand im konnotativen Rückraum der enthemmte Titelheld des einzigen Romans von Oscar Wilde. Dann fiel und fällt auf Christian Grey der verruchte Glanz des ewigschönen Mörders Dorian Gray.

Ein doppeltes Wortspiel also steht da im öffentlichen Aufmerksamkeitsuniversum, seit die Verfilmung des E.L. James-Megasellers in die Kinos gepusht wurde: Grey steht gleichermaßen für Gray (der als Allusion mitschwingt) wie für Grauzone – wenn…


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