Niklas Luhmann
Die Evolution des Kunstsystems
I.
Wir wissen viel über die Geschichte der Kunst. Seitdem die aus der Tradition überkommenen Kunstformen und Kunstwerke ihre Verbindlichkeit verloren haben und nicht mehr als Vorbilder dienen, seit dem 18. Jahrhundert also, ist in der Form von Kunstgeschichtsschreibung viel Wissen angesammelt worden. Es besteht teils in der Interpretation einzelner Kunstwerke oder einzelner Meister aus ihren zeitgeschichtlichen Horizonten heraus, teils in der Rekonstruktion von Einflußverhältnissen, also im Nachzeichnen vermuteter Kausalitäten, teils schließlich in der Analyse von Entwicklungstrends mit oder ohne Fortschrittsannahmen. Für die Sammlung und Vermehrung solchen Wissens sind “Quellen” von Bedeutung. Dieser Mäusefraß der Quellen1 zählt nur, aber dann immer, wenn sie dem kunsthistorischen Wissen als authentische Quellen erscheinen. Authentizität legitimiert fast schon Beachtlichkeit. Wer über Veronese arbeitet, kann es sich nicht leisten, einzelne Werke dieses Malers außer acht zu lassen. Veronese ist Veronese. Aber wer wird sich noch für die Krümel interessieren, die die mühselige Arbeit ganzer Generationen von Historikern, Philologen und Exegeten hinterläßt? Doch wohl nicht die Kunst!
Vielfach sieht man im Anschluß an Dilthey die Aufgabe darin, Ganzheiten als Individualgestalten sichtbar zu machen und Details dadurch zu kontextieren. Das rechtfertigt einen selektiven Umgang mit den Angeboten der Quellen, vor allem natürlich ein Unberücksichtigtlassen dessen, was später kommt und deshalb bei der Entstehung der Werke noch nicht bekannt sein konnte. Und natürlich ist der Historiker befugt, auch zu prüfen, was als Vergangenheit in der Gegenwart bekannt war, in der die Kunstwerke, die ihn interessieren, geschaffen wurden. Die Ganzheiten der Geisteswissenschaften werden daher gerne (oder…