Die architektonische Fassung der numinosen Stelle in der Wallfahrtsarchitektur
von Adolf Reinle
Das schlichteste Ding, das heilig sein kann, ist die Erde, ein Stück Terrain. Erde hat man als Andenken und Berührungsreliquien von Wallfahrtsorten heimgebracht, so vor allem aus Jerusalem, heimatliche Erde pflegt man noch heute Menschen im Exil ins Grab zu geben. Kleine, abgegrenzte Terrainstücke können Ziel von Pilgern sein, wenn sich eben dort Wunderbares ereignete. Das heißt in unserem Zusammenhang, ein derart im wahrsten Sinne unansehnliches Geländestück mußte gestalterisch erfaßbar und durch Bauten gewürdigt und erhöht werden.
Zunächst ein griechisches Beispiel, das zeigen mag, wie zeitlos solche Erscheinungen sein können: Im Baukomplex des 421 bis 406 errichteten Erechtheions auf der Akropolis in Athen dient die offene nördliche Halle als Baldachin – mit symbolischer Deckenöffnung – über jeder Vertiefung im Boden, welche Poseidons Dreizack verursachte, den er in den Felsen stieß, um im Wettstreit mit Athena eine Quelle entspringen zu lassen. Also die Markierung eines göttlichen Blitzschlages. Neben der Kirche S. Pietro in Montorio in Rom erhebt sich der kostbare winzige Säulenrundbau Bramantes von 1502, der keinen anderen Entstehungsgrund hat, als die sakrale Auszeichnung jenes Loches im Boden, in welchem das Kreuz des Martyriums des Apostels Petrus nach der Legende gestanden habe.
In der frühromanischen Hallenkrypta des ehemaligen Damenstifts von Andlau im Elsaß, ca. 30 km südwestlich von Straßburg überrascht den ahnungslosen Besucher im mystischen Dunkel eine vor dem südlichen Mittelpfeiler stehende primitive steinerne Bärenfigur, die treuherzig wie zu jemandem aufblickend den Kopf dreht. Dicht davor ist im steinernen Plattenboden ein aufklappbarer Holzdeckel…