Ingo Arend
Die Anrufung der Sinne
Die Biennale von Venedig und die Documenta setzen auf die sinnliche Intelligenz
Think with the senses – feel with the mind. Was wie die Einladung zu einem Esoterik-Workshop klang, war Ernst gemeint. Das Motto, das der amerikanische Kritiker Robert Storr für seine Venedig-Biennale des Jahres 2007 gewählt hatte, klang wie ein Rückfall in die achtziger Jahre. Was genau hatte der renommierte Kunstwissenschaftler damit gemeint? Ging es ihm um eine Neuauflage des emphatischen »Mit dem Herzen denken«, jenem Motto, das Petra Kelly einst für die Grüne Partei proklamiert hatte? Oder ging es Storr um eine Neuauflage des Sensualismus Baumgartenscher Prägung? Die merkwürdige Mischung aus gut klingendem Allgemeinplatz und philosophischem Ladenhüter gab schon im Vorfeld der Schau Rätsel auf. Welches weit offene Scheunentor wollte der Mann einrennen? Hatte nicht schon Karl Marx in seinen »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« geschrieben: »Die Sinnlichkeit muß die Basis aller Wissenschaft sein«? Wen wollte er mit diesem Lehrsatz überraschen?
So überholt und solitär stand Storr mit seinem Motto freilich nicht da. Letztlich stand die Idee von einer Renaissance des Sinnlichen auch bei der Documenta 12 Pate. So beredet sich deren Kuratoren Roger M. Buergel und Ruth Noack im Vorfeld über das Programm und die Künstler ausschwiegen, um das Maximum an Aufmerksamkeit zu erzielen, dass man für einen Ausstellungserfolg braucht, so gebetsmühlenhaft hatten sie wiederholt, dass ihre Documenta vor allem »schön« sein und eine »sinnliche Begegnung« mit der Kunst ermöglichen solle. Wenn die zwei wichtigsten internationalen Großausstellungen zeitgenössischer Kunst auf ein ähnliches Thema zusteuern, darf man schon…