Die Aktualität der Kunst
Peter Sloterdijk im Gespräch mit Stephan Schmidt-Wulffen
Schmidt-Wulffen: In Ihrer Rede vor der Bayerischen Akademie der Schönen Künste haben Sie u.a. angemerkt, daß die Kunst eine der brisantesten Kategorien des Denkens, der Philosophie sei. Wie kommt es zu dieser Einschätzung?
Sloterdijk: Das Brisante der Kategorie Kunst liegt darin, daß wir sie machen. Die Karriere des Begriffs Kunst, überhaupt die Entdeckung einer philosophischen Ästhetik, fällt zusammen mit dem Untergang der Metaphysik. Der ganze Raum der sogenannten »höheren Welten« oder der »höchsten Werte« tritt im späten 18. Jahrhundert in eine Periode der Götzendämmerung ein, weil die Entdeckung unabweisbar wird, daß das ein Bereich ist, den wir selber gemacht haben. Wir können aber an etwas Selbstgemachtes nicht mehr wie an etwas Gesetztes glauben. Und in diesem Zwischenraum, wo auch seit dem späten 18. Jahrhundert eine Gefahr des Nihilismus spürbar wird, bekommt die Kunst eine ungeheuere Bedeutung, weil sie offenbar auf eine nicht nihilistische Weise mit der Tatsache versöhnt, daß wir das Wesentliche selber machen. Das ist die Brisanz der Kategorie Kunst.
Trotzdem bleibt in gewisser Weise eine Funktion der alten Religionen in den modernen Künsten bewahrt und damit die Poesie des Lebens, die Liebenswürdigkeit des Lebens. In einem romantischen Sinn wird auch die Wahrheit des Lebens verteidigt gegenüber der platten Empirie und dem tödlichen Positivismus, der eigentlich nur noch Fakten kennt und nicht mehr die Kraft aufbringt, Lebenszusammenhänge zu schaffen.
SW: Die Brisanz scheint mir auch darin zu liegen, daß in der Kunst ein ungewöhnlicher Begriff von Rationalität steckt, den wir dringend gebrauchen könnten….
