Michael Hübl
Der Täufer blutet wieder
Während im Alltag Simulakren fröhliche Urständ feiern, enthüllt die reale Wirklichkeit ihr wahres Gesicht im Museum
Eine Gasse in Wien. Manches schäbig, anderes renoviert. Bosnamontage BauGmbH, Happy Hair Biosthetik, schräg vis-à-vis ein Zinshaus mit üppig quellendem plastischem Dekor, das sich wie angestaubter Schlagobers von der Maria-Theresia-gelben Fassade abhebt. Allenthalben naht die Gentrifizierung. Vote young & contemporary steht auf einem Ladenschild, in der Vitrine einer Artothek ist zu lesen: „Meine künstlerische Freiheit ermöglicht mir unregelmäßige Anwesenheitszeiten“. Nebenan ein Beisel, Bundesdeutsche würden es Raucherkneipe nennen. Rechts und links Tafeln, die in markigen Lettern zwei Schwerpunkte des Angebots anzeigt: Hauerweine, Espresso. Die waidmannsgrüne Farbe ringsum blättert kräftig, als rollte sie sich langsam, aber stetig einer Abraumhalde entgegen. In einem dieser Häuser hat, wie die Historikerin Brigitte Hamann herausfand, der junge Adolf Hitler zur Untermiete gewohnt: Stumpergasse 31, Hinterhof, zehn Kronen pro Monat1. An die Folgen der rassistischen Vernichtungspolitik, die Hitler später als deutscher Reichskanzler betreiben sollte, erinnern unter anderem vor dem Institut für höhere Studien und wissenschaftliche Forschung zwei Reihen Stolpersteine mit den eingravierten Namen von 23 jüdischen Opfern, die deportiert und ermordet wurden. Gegenüber ein veganer Supermarkt samt Imbiss. Er offeriert an diesem Tag, es ist der 16. Oktober 2014, Speisen wie „Zweierlei Krautstrudel auf Fenchel-Birnencreme mit Petersilerdäpfeln“ und wirbt mit dem Motto „leben und leben lassen“2. Ein Stück weiter entsteht „Freiraum für Trendsetter“. Fassadendeckend wird die Ansicht einer perfekt durchgestylten Wohnanlage präsentiert, die hell, luftig, großzügig wirkt und ideal zum Minimalismus der Apple-Ästhetik passt: weiß, glatt, cool….