Otto Karl Werckmeister
Der grösste deutsche Künstler und der Krieg am Golf
In der Nationalgalerie
Im März und April 1991 fand in der Berliner Neuen Nationalgalerie eine grosse Ausstellung der neuesten Werke von Anselm Kiefer statt. In der offiziellen Reklame dafür wurde Kiefer der grösste lebende deutscher Künstler nach dem Tod von Joseph Beuys genannt. Knapp einen Monat zuvor, am 27. Februar 1991, war der Krieg am Persischen Golf nach fünf Wochen täglicher Luftangriffe mit einem fünf Tage dauernden Landangriff amerikanischer und alliierter Truppen siegreich beendet worden. Die neuartigsten, auffälligsten Arbeiten in der Ausstellung waren fünf ungefähr vier Meter grosse Bleiskulpturen, die Düsenflugzeuge darstellten (Abb. 1). Ihnen waren in der Eingangshalle der Nationalgalerie zwei grossformatige Tafelbilder mit den Titeln Euphrat und Tigris und Zweistromland gegenübergestellt. Daher setzte die deutsche Presse beide Ereignisse so häufig in Beziehung zueinander, dass der Künstler selbst dazu Stellung nehmen musste, obwohl die Ausstellung lange vor dem Krieg geplant worden war und obwohl Kiefer die ausgestellten Werke meist mehrere Jahre zuvor geschaffen hatte. Die Beziehung zwischen dem Krieg und der Ausstellung ist trotz ihrer Widersprüchlichkeit politisch bedeutsam. Sind es doch dieselben Eigenheiten von Kiefers Werk, die sowohl seine erstmalige Vorstellung als grösster deutscher Künstler als auch sein öffentliches Verständnis als Kommentator des Kriegs am Golf begründeten.
»Der grösste deutscheKünstler«
Bekanntlich war während der achtziger Jahre Kiefers Prestige in den USA grösser als in der Bundesrepublik. Hier wurde er gelegentlich als bedeutendster oder interessantester Künstler seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Seine deutsche Identität gehörte zu diesem Prestige, ohne dass seine Stellung…