Der Engel der Geschichte am venezianischen Himmel
Oder: Als Okwui Enwezor auf Walter Benjamin traf
von Heinz-Norbert Jocks
In der Woche vor der Eröffnung der Biennale in Venedig, bei angenehmen Temperaturen hetzend zwischen den baumbestandenen Giardini und dem von der grellen Sonne bestrahlten Arsenale und dazu noch kreuz und quer durch die von Touristen noch nicht überrannte Stadt, und erst recht sonntagabends bei der verlangsamten Abreise aus der Lagunenstadt, die aus der wolkenlosen Vogelperspektive wie ein fragiles, vom Meer sanft umspültes, noch geduldetes Häuserdickicht erscheint, bei mir der heftig nachhallende Eindruck von schierer Überforderung. Dass man sich, wenn überhaupt, nur einen sehr oberflächlichen Überblick über das dort aus aller Welt Zusammengetragene und das miteinander subjektiv in Beziehung Gesetzte verschaffen kann. Dass es geradezu unmöglich ist, alles wirklich voll zu sehen, in sich aufzunehmen, zu verdauen und sezierend zu durchdringen, und dass es beständig an kostbarer Zeit mangelt, um sich auf jedes einzelne Kunstwerk so intensiv zu konzentrieren, dass sich ganz allmählich in uns ewige Nachbilder entwickeln. Durchwandert man das weitläufige Gelände der kaum Schatten bietenden Arsenale von Halle zu Halle bis an das hinterste Ende dieser temporären Kunstwelt, beglückt dabei durch den unvergesslichen Ausblick auf das ruhige Blau des gleitenden Wassers, und wechselt man schließlich von Länderpavillon zu Länderpavillon, die über die ganze Stadt verteilt sind, dabei sich nach Möglichst im Schatten von Bäumen und Häusern bewegend, so stellt man fest, dass jedes Überblicksdenken und jeglicher Versuch einer noch so raffinierten Synthetisierung ein ungeheures Wagnis, wenn nicht sogar von vornherein zum Scheitern…