Fragen zur Zeit
Dem Januskopf in die Gesichter blicken
Joseph Beuys hatte es noch leicht: Die Vorzeichen für das Schweigen haben sich geändert
von Michael Hübl
Wie unbeschwert das alles wirkt: Zur besten Sendezeit überträgt das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) am 11. Dezember 1964 live aus dem Landesstudio Nordrhein-Westfalen den Auftritt dreier avantgardistischer Kunst-Akteure. Erst eine Woche zuvor hat „Mr. Wunnebar“ Lou van Burg beim selben Sender sein Debüt als Moderator der Spielshow „Der goldene Schuß“ gegeben. Nun bietet die noch junge öffentlich-rechtliche Anstalt1 ein Forum zur Demonstration aktuellster Auseinandersetzung mit der Frage, was Kunst sein soll und Kunst sein kann. Neben Bazon Brock und Wolf Vostell kommt an jenem frühen Dezemberabend Joseph Beuys zum Zug und realisiert eine Aktion, die durch ihre titelgebende, irgendwie geheimnisschwangere Botschaft nachhaltige Aufmerksamkeit erlangen wird. Auf eine großformatige Platte schreibt Beuys mit Braunkreuzfarbe, der er Schokolade beigemischt hat: „Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet.“
Dem womöglich kunstinteressierten, jedoch fachspezifisch nicht weiter informierten TV-Alltags-Publikum werden wahrscheinlich die diskursiven Finessen entgangen sein, die der Satz birgt und die ausführliche Reflexionen nach sich zogen.2 Eher mag die Fernsehgemeinde einen Irrtum geargwöhnt haben. Schweigen? Duchamp? Hatte der Aktionskünstler da etwas verwechselt?
Anfang des Jahres war Ingmar Bergmans Film „Das Schweigen“ in die deutschen Kinos gekommen und fortan aufs Heftigste in der Öffentlichkeit diskutiert worden; die Erregungsvokabel ‚Pornografie‘ kursierte. Da lag es nahe, das im doppelten Sinn zum Reizwort avancierte „Schweigen“ spontan mit dem jüngsten Werk des schwedischen Regisseurs und nicht mit der Zurückhaltung eines Avantgardisten in Verbindung zu bringen, der gerade…