Maribel Königer
Das Sibyllinische Auge
Künstlerwerkstätten Lothringer Straße, München, 9.1. – 3.2.1991
Kleine vierzehnjährige Tänzerin” oder “Große angekleidete Tänzerin” heißt die mit Tüllröckchen und Echthaar kombinierte Bronze unentschieden, die Edgar Dégas auf der Impressionisten-Ausstellung von 1881 erstmals dem Publikum vorstellte. Doch nur der Schriftsteller Joris-Karl Huysmans nahm diesen für ihn “einzigen wirklich modernen Versuch, dem ich bisher in der Skulptur begegnet bin”, zur Kenntnis – jener Mitbegründer der Décadence-Literatur, welcher der kunsthistorischen Forschung das Schlagwort von Dégas’ Misogynie bescherte. Heute steht die Figur in einem der oberen Kabinette des Musée d’Orsay, und dort wurde sie von der New Yorkerin Louise Lawler fotografiert. Was mit dem begleitenden Titel “Is she ours” wie ein feministischer Beitrag zum Frauenbild des späten 19. Jahrhunderts gelesen werden könnte, entpuppt sich indes im Werkzusammenhang Lawlers als Kommentar zu Präsentationsformen von Kunst in öffentlichen und privaten Sammlungen, zu den Orten, die kanonisierte Kunst heute besetzt.
Die 43jährige Lawler zählt zu den älteren und hierzulande bekanntesten Künstlerinnen dieser Ausstellung, die der Foto e.V. München zusammen mit der Barbara Gross Galerie in der Lothringer Straße präsentiert. “Das Sibyllinische Auge” ist inzwischen die vierte große Gemeinschaftsausstellung des Vereins, dem die Förderung von Fotokunst ein ebenso wichtiges Anliegen ist wie Barbara Gross die erhöhte Präsenz von Frauen im Kunstbetrieb. Elf Fotokünstlerinnen anglo-amerikanischer Herkunft konnten die enggefaßten Auswahlkriterien der Kuratoren erfüllen – also Frau sein, in Übersee wirken und mit Fotografie arbeiten. Und obwohl Geschlechtszugehörigkeit, Wohnort und vorwiegend benutztes Medium eine relativ willkürliche Schnittmenge bilden, aus der ein gemeinsamer künstlerischer Ansatz sich keinesfalls zwangsläufig ergeben…