Paolo Bianchi
Das Selbst als Nerd und Blogger
SHORT CUTS 1: SIS.TM
Wenn Jean Baudrillard im vorhergehenden Text vom «Lob der Singularität» spricht, stellt sich sogleich die Frage, was ist das nun eigentlich. Lässt sich die Singularität ins Leben übertragen oder führt sie vielmehr ein abstrakt bleibendes philosophisches Leben. Wenn der Begriff sich vom herkömmlichen des Subjekts abgrenzt, um neue Individuationsprozesse zu skizzieren – etwa im Sinne des Rhizoms sowie transversaler, nicht-hierarchischer Verbindungen –, so bietet sich der Blick in Weblogs als Anregung an, der Singularität womöglich auch in der Lebenspraxis zu begegnen. Der Schweizer Künstler SIS.TM bewegt sich als Globetrotter der Melancholie im Netz, um den erschütternden Selbstoffenbarungen von Bloggern und Nerds nachzuforschen. Allesamt Singularitäten und zugleich Ströme im Zeichen einer Melancholie des Widerstands.
Im Vergleich zum Internet ist das Fernsehen mit seinen «Selbsterfahrungstrips» jenseits der Ekelschranke klar das Leitmedium einer sich infantilisierenden Gesellschaft. Wer im World-Wide-Web durch Weblogs surft, begegnet erschütternden Selbstbekenntnissen über die Abenteuer des Fleisches und des Wortes. Ob Abfall oder Wärme, ob biophil oder nekrophil, ob Über-Ich oder Es, ob schamhaft oder schamlos, ob Selbstmitleid oder Selbstbewusstsein – alles schimmert auf der Folie einer Parallel-Existenz. Alles scheint eins. Diese Widersprüchlichkeit müssen alle, die sich mit dem Internet befassen, aushalten können. Wer sich als Ahnungsloser reisend im Netz bewegt, wird eine Verschiebung in seiner Wahrnehmung von Wirklichkeit bemerken. Im Internet lässt sich fortlaufend beobachten, wie das Gehäuse von Privatheit bröckelt. Mit dem Unberechenbaren ist zu rechnen. Fehl am Platz sind psychologische Vorurteile, welche die Nerds als «Schatten kultureller Muster»…