Bernhard Waldenfels
Das Rätsel der Sichtbarkeit
KUNSTPHÄNOMENOLOGISCHE BETRACHTUNGEN IM HINBLICK
AUF DEN STATUS DER MODERNEN MALEREI
Ein Denken, das von allen sachfernen Vormeinungen und Erklärungen auf das zurückgeht, was sich zeigt, in den Grenzen und Weisen, wie es sich zeigt, steht in naher Beziehung zur Kunst des Sichtbarmachens in Bildern. Das Nachdenken über Kunst geht über in einen denkenden Austausch mit der Kunst, wenn dieser Zusammenhang zur Wirkung kommt. Das besagt allerdings auch, daß Rätsel und Beirrungen von einem Bereich auf den anderen übergreifen.
Unter dieser Perspektive soll in den folgenden Betrachtungen die von Husserl ausgehende Phänomenologie ins Spiel gebracht werden. Zielpunkt ist die Malerei, insbesondere ihr moderner Status, Ausgangspunkt das Phänomen der Sichtbarkeit, das zunächst verschiedene Grundformen annimt (I), sich in der sichtbar machenden Sichtbarkeit von Bildwerken potenziert (II) und sich ins Krisenhafte steigert, wenn die Ordnungen des Sichtbaren schwanken oder zerbröckeln (III): Die Krise von Vernunft, Subjekt und Gesellschaft geht an der Kunst nicht vorüber, im Gegenteil, sie wird hier auf spezifische Weise sichtbar. Denn auch die Kunst hat auf ihre Weise teil am Weltbezug, nicht anders als Erkennen und Handeln; für ein ästhetisches Refugium bleibt in dieser Welt kein Raum.
I. Formen des Sichtbaren
Was die Phänomenologie zur Frage des Sichtbaren und Bildhaften beizusteuern hat, sind zunächst relativ allgemeine Gesichtspunkte, die das Umfeld der bildenden Kunst betreffen, noch nicht diese selbst. Doch eine vorauszuschickende Analyse der Strukturen des Sichtbaren kann uns davor bewahren, jeden Stilwandel zum Paradigmenwechsel zu erklären oder auftretende Krisen der Kunst ins Apokalyptische zu steigern. Das Nachdenken über Kunst braucht…