MARTIN STINGELIN
Das Netzwerk von Gilles Deleuze oder
Der nichtlineare Begriff des Begriffs
Sieben Jahre vor seinem krankheitsbedingten Freitod stimmte der französische Philosoph Gilles Deleuze (1925-1995) einem in mehrfacher Hinsicht paradoxen Experiment zu: Das Filmgespräch, das er mit Claire Parnet zwischen dem Herbst 1988 und dem Frühjahr 1989 führte, sollte als lebendiges Bild einer unabschließbaren Denkbewegung erst postum veröffentlicht werden und sich durch die lineare Logik alphabetischer Stichwörter und eine starre Kadrierung gegen die Vereinnahmung durch das bewegte Bild sperren: Gerade die strenge Linearität und Unbewegtheit der äußeren Form unterstrich die vielfältigen Fluchtlinien, die Deleuzes Begriffe eröffnen. Das siebeneinhalbstündige Abécédaire de Gilles Deleuze wurde 1997 in Form von drei Videokassetten publiziert (Vidéo Editions Montparnasse).
Gleichzeitig begann “web deleuze” (http:// www.imaginet.fr/deleuze), im Internet die Transkriptionen einer Reihe von Vorlesungen zugänglich zu machen, die Deleuze zwischen 1971 und 1987 in Vincennes und Saint-Denis gehalten hat. Sie stellen eine eigentliche Schule des Begriffs dar, die den herkömmlichen, linear ableitbaren Begriff des Begriffs sprengt und durch einen neuen Begriff des Begriffs ersetzt. Die klassische Philosophie friedet ihre Begriffe in Pyramiden ein, an deren Spitze jeweils ein oberstes Prinzip steht: die Idee, das Eine, das Sein usw. Durch Verzweigungen wie Wesen und Erscheinung, Substanz und Akzidenz, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit leitet sie einen hierarchischen Stammbaum daraus ab, den Baum der philosophischen Erkenntnis. Für Deleuze dagegen entspringt die Erkenntnis dem Eigenleben von Begriffen, die auf vielfältigste Weise zueinander in Beziehung treten und ein wucherndes Wurzelgeflecht, ein “Rhizom”, bilden.
Bei Deleuzes Begriff des Begriffs, den er zeitlebens an Spinoza geschult hat, handelt…