MARIBEL KÖNIGER
Das Museum der Top-Hundred
KANONISIERUNGS-PHANTASIEN IM AUSSTELLUNGSBETRIEB AM BEISPIEL DER DOCUMENTA
Die documenta ist heute ein Markenzeichen – wer wollte das bestreiten? Obwohl – oder gerade weil – sich ihr Logo mit jeder Ausgabe ändert, ja das von Gründer Arnold Bode und seinen frühen Mitstreitern bewusst klein gehaltene “d” von der elften Ausstellung gar erstmals großgeschrieben wird, obwohl wechselnde Intendanzen die Strukturen im Fünfjahres-Rhythmus immer neu erschaffen, obwohl über die jeweils jüngste Schau vielfach streng geurteilt wird, obwohl es längst Dutzende andere Biennalen gibt: documenta bleibt documenta, und eine Teilnahme zählt was in der Vita, egal welcher Art sie war und wann diese stattfand. Die starr nach Schlagworten forschenden Ausschnittsdienste sandten und senden wöchentlich unzählige Zeitungsartikel in die Pressestellen der jeweils aktuellen documenta (und in den Jahren ohne Organisationsteam ins Pressebüro des Museum Fridericianum). In den weitaus meisten werden ehemalige – und nicht selten angebliche – “documenta-Künstler” als Haupt- oder Nebenakteure erwähnt, die niemand mehr kennt. Gerade diese traurigen Berichte vergeblich behaupteter Bedeutsamkeit scheinen aber offenkundig die verbreitete Meinung Lügen zu strafen, eine documenta-Teilnahme würde einen Künstler automatisch in den Himmel der artworld, der Besserverdiener am Kunstmarkt, der Kunstgeschichte erheben.
Christian Boltanski hat mit dieser Dialektik von anonymisierender, weil eben nicht elitärer, sondern über die Jahre massenhafter Ausstellungsbeteiligung einerseits und ruhmreicher Exklusivität eines traditionsbewussten, internationalen Kunstereignisses andererseits 1995 für die Biennale von Venedig eine Arbeit konzipiert: Die “Liste des Artistes Ayant Participé à la Biennale de Venise 1895 – 1995” führt die Namen aller Künstler auf, die bis zur damaligen Jubiläumsveranstaltung…