Gottfried Boehm
Cy Twombly
Erinnern, Vergessen
Welche Art des Sehens ist es denn, die wir in diesen Blättern kultivieren? Wie erfahren wir den Prozeß der Sedimentierung, des Zeigens und Verbergens? Es ist ein inneres Sehen, welches die Folge der Zeichen und Spuren liest, die angeregten Sinnverweise einlöst und auflöst. Tatsächlich sind Twomblys Blätter keine schrittweisen Reduktionen oder Abstraktionen jener Wirklichkeit, die wir vor uns sehen. Die weitgehende Löschung gegenständlicher Motivreste zugunsten einer höchst liquiden, manchmal strömenden Bildform ist dafür ein zusätzlicher Beleg. Aber auch impressionistisch sind sie nicht auf eine Außenansicht bezogen. Die zahlreichen mentalen und assoziativen Setzungen deuten in eine andere Richtung. Sie deuten nach innen, aber nicht ins Zentrum einer Person, dort wo ihr Wille, ihr Ausdruckswollen sich konzentriert, sondern tiefer: dorthin, wo das Gedächtnis sitzt.
Das innere Sehen, das Twombly künstlerisch praktiziert, unterscheidet sich deshalb auch von jenen freien Phantasiebildungen, wie sie der Surrealismus anstrebte. Traum, Schlaf und unbewußte Triebwelt sind nicht die Reservoire seiner Ikonographie. Das Linkische und Ungeordnete Twomblys repräsentiert eine andere Art seelischer Präsenz. Die Bildwelten Mirós, Magrittes, Max Ernsts oder anderer Surrealisten sind mit den seinen ganz unvergleichlich. Eher hat er – wie Pollock oder auch Wols – Einsichten, die im ästhetischen Programm des psychischen Automatismus lagen, weiterentwickelt. Alles Therapeutische, Psychologisierende und Privatistische wird dabei abgebaut. Denn Twombly kehrt nicht die dunklen Winkel seiner Phantasie aus, sondern er schließt in seinen Bildern an die großen Inhalte, Normen, Figuren und Topoi der europäisch-mittelmeerischen Kultur an. Ihnen begegnen wir, zur Erfahrung geronnen, aus ihr erneuert. Twombly ist ein…