Doris von Drathen
Copàn
Galerie Giovanna Minelli, Paris, Dezember 1990
In Wirklichkeit steht die Zeit nicht still”, erklärte Rodin seinem Gesprächspartner Paul Gesell. Damit sagte er ihm, warum er Momentaufnahmen ablehne, denn darauf erscheinen “die Personen, obgleich in voller Aktion festgehalten, wie jäh in der Luft erstarrt, wie gelähmt”.
Wenn Rodin in jenen berühmten Gesprächen darlegt, daß ein Bildhauer viel näher an der Wirklichkeit sei, wenn er eine fortschreitende Entwicklung der Gebärde” virtuell anlege, als jede Photographie, die alle Teile des Körpers in demselben Zwanzigstel einer Sekunde wiedergibt, fällt er im voraus sein Urteil über Duchamps “Akt, eine Treppe hinabsteigend”, über die Geschwindigkeitsbilder der Futuristen und über Eadweard Muybridge.
Die Arbeit von Copàn setzt genau in diesem Moment an, dem Moment, wo ein Bild auftaucht und im nächsten Augenblick schon nicht mehr Wirklichkeit ist, nur noch in der Erinnerung existiert.
Fünf Diaprojektoren sind auf weißen Sockeln aufgestellt. Jeder wirft auf Endlosschlaufe eine Serie von vier bis sechs Dias an die Wand. Die Bilder tauchen aus dem Schatten ins Licht, werden sichtbar, verschwinden wieder im Schatten. “Licht ist aktiv, und Schatten ist passiv – Licht ist nicht getrennt von Schatten, sondern durchdringt ihn, wenn man ihm Zeit gibt”, hatte Alfred Jarry gesagt, ohne etwa tatsächlich an Belichtungszeit zu denken.
Belichtungszeit hat für diese Arbeit eine andere Bedeutung als der winzige photochemische Moment. Die Belichtungszeit des Projektors hat die Ausdehnung eines langen, intensiven Augenblicks, das Gedächtnis hat gerade genug Zeit, das Bild zu erfassen und aufzunehmen. Es ist also eine Belichtungszeit des Gedächtnisses, denn es geht um Augenblicke…
