Cindy Sherman
von Klaus Honnef
Wäre Cindy Sherman eine Schauspielerin, wir würden ihr eine besondere Eignung und Begabung für diesen Beruf ohne Schwierigkeiten zugestehen können. Schon der flüchtige Blick über die fotografischen Proben ihrer darstellerischen Fähigkeiten entdeckt das erstaunliche Einfühlungsvermögen und eine frappierende Verwandlungskunst. Zwar erweist sie sich bei näherem Hinschauen trotz Maskerade und Verkleidung unverkennbar als ein und dieselbe Person, doch nicht die steht im Zentrum des Interesses, das die fotografischen Bilder auf sich ziehen, sondern die weiblichen Figuren, die Cindy Sherman zu sein vorgibt: die junge Frau, die in einem langen Gang an eine Tür lehnt, den Pelzmantel lose über die Schulter geworfen, den rechten Ellbogen erhoben, als wollte sie soeben durch ein leichtes Anklopfen ihre Ankunft signalisieren, eine Frau, vielleicht auf dem Weg zu ihrem Liebhaber nachts in einem Hotel, oder ein junges Mädchen in knapp sitzenden Shorts und engem Pullover auf einer Fensterbrüstung, dessen Aufmerksamkeit von irgendeinem Ereignis außerhalb gefesselt zu sein scheint, einsam wie jemand, der wartet und die Zeit totschlägt, oder der Teenager in Turnschuhen, weißen Socken, gewürfeltem Rock und weißer Bluse, das blonde Haar zu einem züchtigen Knoten geschürzt, der mit seinem Koffer in der Abenddämmerung auf einem Highway steht und womöglich darauf wartet, daß ein Auto ihn mitnimmt, ein junger Mensch, der von zu Hause ausgerissen ist, sich aus den engen Verhältnissen eines provinziellen Daseins befreit hat und endlich die große weite Welt kennenlernen will, die ihm Kino, Fernsehen und Werbung vorgegaukelt haben, oder schließlich die blonde Schönheit mit zerzauster Frisur, die das schwarze…