Christos Reichstag – und andere urbane Projekte
Am 23. Juni ist es soweit. Noch leuchten die großen, in Stein gehauenen Initialen ohne jede Sichtbehinderung vom trutzigen Reichstag in Berlin: “Dem deutschen Volke.” Im deutschen Erinnerungsjahr 1995 ist man seit einigen Monaten mehr oder weniger bemüht, möglichst viel unentdeckte Erinnerung dem verhüllenden Gedächtnis dieses Volkes zu entreißen. Wird im Sommer ausgerechnet mit der Verhüllung eines der signifikantesten deutschen Gebäude mehr Bewußtsein von dieser Vergangenheit ins Gedächtnis zurückkehren? Inzwischen hat sich der Kostümwechsel zur Haupt- und Staatsaktion ausgewachsen. Der Band zeigt sie im Kontext von Christos urbanen Projekten. Keine kontroverse Aufarbeitung, eher eine positive Begleitung von Christos Vorhaben.
Die Lektüre der dokumentierten offiziellen Reden von Politikern, etwa der Christo-Befürworterin Rita Süßmuth, bestärkt alte Vorbehalte gegenüber dem eigentlich als kritische Wahrnehmungskorrektur gedachten Projekt. Christo selbst sieht in den Anfangsjahren eine “subversive Dimension”. Die Politiker betonen dagegen “Apotheose und Respektsbezeugung” und “Hervorhebung und Pietät” gegenüber dem Identitätsmöbel Reichstag. Mit solcher Hervorhebung hat Tilmann Buddensieg bekanntlich nie große Schwierigkeiten gehabt, weil er den Reichstag mit seinem eklektizistischen architektonischen Sammelsurium als Dokument bürgerlich-parlamentarischer Selbstbehauptung gegenüber dem Wilhelminismus und seiner pompösen Obrigkeitsästhetik sieht. Er nimmt ihn gegen die landläufigen Vorurteile in Schutz, die ihn undifferenziert als Bastion des Deutschnationalismus abwerten.
Wesentlich neue Aspekte liefert der Bildband nicht. Doch man kann die nützliche Dokumentation lesen wie Christos Werk. Als Prozeß. Dem kann man trotz vieler Vorbehalte die Anerkennung nicht versagen. Vorbehalte gegen Art und Tonlage, wie viele das Berliner Projekt für eine Art nationaler Wiederauferstehung interpretieren wollen. Doch die Dokumentation zeigt…