Borderline-Syndrom” – das ist einer der geheimnisumflorten Termini aus der Psychologie, die – wie etwa die “Frustration” – Eingang gefunden haben in die Alltagssprache. Zwar darf man davon ausgehen, daß weder die wissenschaftliche Definition noch die diagnostischen Implikationen Gemeingut sind. Dafür drückt sich in der stark vermittelten, übertragenen Bedeutung des Begriffs offenbar ein Bewußtsein von Krisenhaftigkeit aus. Eine maßgebliche Kategorie ist die “Grenze”. Die unklare, brüchige, durchlässige, sich fortwährend verschiebende, nie fest zu umreißende Grenze: Wo wechselt der freizeitorientierte Durchschnittsbürger die Gangart, wird er vom Jogger zum Wolf? Wo findet er Halt und Inhalt, entgeht er dem Gefühl der Leere, der Dissoziation? Wie die einzelnen Subjekte, so können auch ihre gesellschaftlichen Zusammenschlüsse von solchen schlingernden Übergängen, von Unschärfen zwischen Recht und Unrecht, normal und pervers betroffen sein, unfähig, die Realität einzuschätzen und zu meistern, allzeit bereit zu regredieren.
In diesem umfassenden Sinn ist der Begriff “Borderline” auch bei der israelisch-französischen Künstlerin Bracha Lichtenberg Ettinger zu verstehen, die ihn zum Motto einer ihrer jüngsten Arbeitskomplexe1 gemacht hat. “Borderline Conditions and Pathological Narcissism” ist ein Konvolut aus Fotos, manipulierten und übermalten Fotokopien, das sich als ein Geflecht wechselseitiger semantischer Bezüge erweist: Da ist das Lichtbild einer jungen Frau in Shorts; sie steht auf einem Feld zwischen Strohballen und trinkt mit sichtlichem Genuß aus einer Korbflasche. Heile Welt der 40er, 50er Jahre. Auf dem übernächsten Foto ein Kleinkind mit Nuckelflasche. Heile Welt? Die Fotosequenzen einige Schritte weiter wenden sich an das historische Gedächtnis, wecken Vermutungen, daß die Juden, die auf den hochvergrößerten Schwarzweißaufnahmen als…