Matthias Reichelt
Boris Mikhailov
»Time is out of Joint« – Fotografie 1966–2011
Berlinische Galerie, 24.2. – 28.5.2012
So wie Hausfassaden die Spuren der Zeit tragen, so schreibt sich Geschichte in die menschlichen Körper ein. Der Körper steht immer wieder im Mittelpunkt von Boris Mikhailovs konzeptueller Fotografie. Der 1938 in Charkov in der Sowjetrepublik Ukraine geborene Künstler erregte insbesondere mit der zwischen 1997–1999 entstandenen Serie „Case History“ (Krankengeschichte) Aufsehen. Sie umfasst drastische Farbaufnahmen von Obdachlosen in Charkov, den Verlierern der postsozialistischen Verhältnisse. In entwaffnender Offenheit bis hin zur völligen Nacktheit zeigen diese Menschen ihre Wunden, ihre Geschlechtsteile und Tätowierungen und demonstrieren den körperlichen Verfall als Resultat ihres nur noch mit Alkohol kompensierbaren Lebens auf der Straße. Manche Motive sind deutlich an die christliche Ikonografie angelehnt, wenn z.B. Obdachlose einen ihrer Genossen wie bei der Kreuzabnahme tragen oder ein anderer seine Wundmale wie Stigmata präsentiert. Auf einem Bild hat sich Mikhailov selbst als Betrachter eines ihm entgegengestreckten wunden Gesäßes in das Motiv integriert. „Case History“ polarisiert und brachte Mikhailov auch den Vorwurf des Elendsvoyeurismus ein. Die offensiven Blicke der Personen direkt in die Kamera sprechen für eine intensive und relativ distanzlos Begegnung von Fotograf und Portraitierten. Deutlich tritt Mikhailov in einen Dialog mit den Obdachlosen, die sich für seine Kamera in Szene setzen. Diese Unmittelbarkeit organisiert Empathie, Empörung und Ekel gleichermaßen über Verhältnisse, die die Menschen derartig degradieren. Fälschlicherweise wurde Boris Mikhailov nicht zuletzt dieser Serie wegen immer mal wieder als Dokumentarfotograf bezeichnet, was er mitnichten ist. Zum einen ist die „Case History“ eine…