Christiane Fricke
Berechenbarkeit der Welt
Bonner Kunstverein, 15.5. – 21.7.1996
Tabubruch mit Pillen und Pipetten” – die Berliner TAZ vom 8. Juli dieses Jahres reagierte angesichts der im Wochentakt eröffneten Präsentationen von Bonn bis Rotterdam mit einer geräuschvollen Kritik. Im Visier befinden sich “Trendausstellungen” (Rheinischer Merkur, 14.6.1996), die “sich in spekulativer Weise ‘kreativen’ Wissenschaftsmodellen und ‘berechenbaren’ Artefakten” (TAZ) widmen, was immer das auch sein mag. Die Schubladen sind schon geöffnet und die Trends ausgemacht, bevor der Gegenstand einer näheren Überprüfung unterzogen wurde.
Vor allzu eiligen Festlegungen warnt in Bonn der Titel. Die “Berechenbarkeit der Welt” gibt es – als Begriff allenfalls in der Mathematik bzw. Informatik, wo man über Berechenbarkeitsmodelle und ihre Grenzen diskutiert (vgl. KUNSTFORUM Bd. 124, S. 120) – und ob die Welt überhaupt berechenbar bleibt, hängt in erster Linie von der unberechenbaren Spezies ab, die sie bevölkert. Vom Leitbild des “uomo universale” der Renaissance, dessen Grad an Bildung zugleich Maßstab für moralische Qualität war, haben wir uns weit entfernt. Heute sitzt die Wissenschaft in uneinnehmbar wirkenden Bastionen, wo sie die Eroberung des Kosmos zur Chefsache erklärt. Steht der Mensch tatsächlich “im Mittelpunkt”, wie es das Logo des Forschungszentrums Jülich behauptet?
Angesichts der weltweit labil gewordenen Lebensgrundlagen hängt die Überzeugungsfähigkeit wissenschaftlicher Anstrengungen und die Durchsetzbarkeit ihrer Produkte mehr denn je davon ab, ob die Frage nach der Verantwortbarkeit des Machbaren rechtzeitig gestellt wurde. Wenn Künstler am Ende des 20. Jahrhunderts sich offenkundig verstärkt mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzen, ist das möglicherweise auch schon ein Reflex auf den von Ernst Pöppel und anderen diagnostizierten…