Jean Pierre Jeudy
Autoskopie und Paradoxien des Videophilen
Meine Organe werde ich bestimmt nicht sehen. Natürlich werde ich ein paar Bilder von meinen Lungen erhalten, wenn ich mich weiter röntgen lasse; falls ich aber eines Tages eine von beiden sehe, dann vielleicht aus Versehen, in einem Kübel, nach einer Operation. Ich werde nicht einmal sicher sein können, daß es meine Lunge ist, denn es gibt keinerlei Anhaltspunkte, sie wiederzuerkennen. Meine Leber, mein Herz, meine Lungen, meine Hoden – ich sehe sie in meinen Träumen oder Phantasien. Sie sind von mir getrennt und leben gleichsam autonom. Oft scheint ihre Darstellung im Raum einem Bäumchen-wechsle-mich-Spiel zu gleichen, und sie nehmen die Gestalt gewöhnlicher Gegenstände wie Öfen, Kästen und Schränke an… Doch ihr Leben entgleitet mir nicht völlig, denn bestimmte von ihnen geben Töne von sich, und alle geben mir Anlaß zu Freuden und Leiden. Wenn ich behaupte, mir tue die Leber weh, so antwortet man, das sei unmöglich, denn sie ist ein schmerzloses Organ. Und doch betrieb man in den antiken Gesellschaften Hepatoskopie, eine Art “Leberschau”: Vermittels der Leber konnte man in der Zukunft lesen, die Leber verwandelte sich in ein Organ zum Lesen des Schicksals. Zeigt ihr Zustand mir denn nicht an, was ich morgen sein werde? Es gibt gewissermaßen ein hepatobiläres Verhalten, ein Verhalten, das sich nach dem jeweiligen Zustand der Leber richtet… Tatsächlich arbeitet mein autoskopisches Videogerät ununterbrochen mit einem begrenzten Material, und ich reproduziere die Bilder meines organischen Lebens auf dem roten Bildschirm meiner schlaflosen Nächte. Dieses “geistige Auge”…