MICHAEL HÜBL
Auf der documenta zu Hause
1.
Seit Gorbatschow in Rußland nicht mehr Herr im Hause ist, scheint er zumindest beruflich das Dasein eines Edelnomaden zu führen. Doch Trost kommt von den Verfolgten: Just die Juden boten ihm jüngst ein Zuhause, selbst seit fast zwei Jahrtausenden gezwungen, sich in alle Welt zu zerstreuen, oft um die blanke Existenz zu retten. Während eines Israel-Besuchs Mitte Juni diesen Jahres forderte man Gorbatschow auf zu bleiben1: Er und seine Frau könnten es so schön haben. Der letzte Generalsekretär der KPdSU lehnte eine Übersiedelung ins Gelobte Land zwar ab, nutzte jedoch die Gelegenheit, um seine Politik in punkto Freizügigkeit zu rechtfertigen: Er habe die Juden deshalb nicht aus der Sowjetunion ausreisen lassen, weil er sich nicht von all den qualifizierten Arbeitskräften habe trennen wollen2. Dachte er an Handwerker für sein Europäisches Haus?
Damals vielleicht, als er noch regierte. Inzwischen sind die Zeiten, da man in Europa vor Freude über eine unierte Zukunft aus dem Häuschen geriet, erst einmal vorbei. Der Begriff “Europäisches Haus”, einst Synonym für einen friedlichen Ausgleich zwischen Ost und West ist durch den Gang der Geschichte zunächst überholt. Statt dessen wird deutlich, wie nach dem Zusammenbruch der sogenannten Nachkriegsordnung neue und alte Machteliten ihre Claims abzustecken versuchen und wie unter dem Schlagwort der nationalen Identität Klein- und Kleinstterritorien entstehen. In der Abgrenzung suchen die verschiedenen Gruppen ihr Heil, wobei sie sich darauf berufen, daß in den staatlichen Gebilden, in die sie bislang eingebunden waren, ihre “nationale Identität” unterdrückt worden sei. Jetzt sind sie…