GERNOT BÖHME
Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik 1
1. Atmosphäre
Der Ausdruck “Atmosphäre” ist dem ästhetischen Diskurs keineswegs fremd. Vielmehr taucht er sogar häufig fast zwangsläufig in Eröffnungsreden zu Vernissagen, in Kunstkatalogen und Laudationes auf. Da mag von der mächtigen Atmosphäre eines Werkes die Rede sein, von atmosphärischer Wirkung oder einer mehr atmosphärischen Darstellungsweise. Man hat den Eindruck, daß mit “Atmosphäre” etwas Unbestimmtes, schwer Sagbares bezeichnet werden soll, und sei es auch nur, um die eigene Sprachlosigkeit zu verdecken. Es ist fast wie mit dem “Mehr” bei Adorno. Auch damit wird in andeutender Weise auf ein Jenseits dessen, wovon man rational Rechenschaft gaben kann, gewiesen, und zwar mit Emphase, als finge erst dort das Eigentliche, das ästhetisch Relevante an.
Diese Verwendung des Wortes “Atmosphäre” in ästhetischen Texten, schwankend zwischen Verlegenheit und Emphase, entspricht der im politischen Diskurs. Auch hier kommt angeblich alles auf die Atmosphäre an, in der etwas geschieht, und die Verbesserung der politischen Atmosphäre ist der allerwichtigste Schritt. Andererseits ist ein Bericht, nach dem man “in guter Atmosphäre” miteinander verhandelt habe oder eine Verbesserung der Atmosphäre erreicht habe, doch nur die euphemistische Version der Feststellung, daß bei einem Treffen nichts herausgekommen ist. Diese vage Verwendungsweise des Ausdrucks Atmosphäre im ästhetischen und im politischen Diskurs beruht auf einer Verwendung in der Alltagssprache, die in vielem sehr viel bestimmter ist. Hier wird der Ausdruck “Atmosphäre” auf Menschen, auf Räume und auf die Natur angewendet. So redet man etwa von der heiteren Atmosphäre eines Frühlingsmorgens oder der bedrohlichen Atmosphäre eines Gewitterhimmels. Man redet…