Wolfgang Welsch
Ästhetisierung – Schreckensbild oder Chance?
»Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf;
leiste deinen Zeitgenossen,
aber was sie bedürfen, nicht was sie loben.«
Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen
»Vielleicht aber wird es {…} überhaupt anstössig sein,
ein aesthetisches Problem so ernst genommen zu sehn {…}.«
Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Interesse ist. Sie ist mit dem Ausdruck “Ästhetisierung” zu bezeichnen. Ästhetisierung ist ohne Zweifel ein Schlüsselphänomen unserer Zeit. Der Ästhetisierungs-Boom reicht von der individuellen Stilisierung über die Stadtgestaltung und die Ökonomie bis hin zur Theorie. Immer mehr Elemente innerhalb der Wirklichkeit werden ästhetisch überformt, und zunehmend gilt uns Wirklichkeit im ganzen als ästhetisches Konstrukt.
Als erstes will ich ein Tableau dieser Ästhetisierungsprozesse geben, wobei es mir darauf ankommt zu zeigen, daß es nicht nur eine Oberflächenästhetisierung, sondern auch eine Tiefenästhetisierung gibt. Die erste ist vielberedet und reichlich bespottet, die zweite hingegen ist weniger geläufig, jedoch gewichtiger, und sie zu distanzieren dürfte auch schwieriger sein. Wer, wie das leider meist geschieht, unter dem Stichwort “Ästhetisierung” nur von der Oberfläche spricht und nicht auch die Tiefenästhetisierung ins Auge faßt, bleibt unter dem heute zu fordernden diagnostischen Niveau.
I. Tableau der gegenwärtigen Ästhetisierungsprozesse
1. Oberflächenästhetisierung: Verhübschung, Erlebnis, Animation
Am offenkundigsten ist die Ästhetisierung natürlich im urbanen Raum, wo in den letzten Jahren beinahe alles einem Facelifting unterzogen wurde. Die Einkaufszonen wurden elegant, chic, animatorisch gestaltet. Kaum ein Pflasterstein, keine Türklinke und kein öffentlicher Platz blieb von diesem Ästhetisierungs-Trend verschont. Sogar die Ökologie…