RAINER METZGER
ANEIGNUNG UND AUSLEGUNG
ÜBER DIE KOMPLIZENSCHAFT VON KANON UND KUNST IN DEN LETZTEN 200 JAHREN
Wir müßten eine neue Mythologie haben.
Aus dem sogenannten “Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus”
1. DER MECHANISMUS DER DOPPELUNG
Die Kunst der Moderne ist von buchstäblicher Geworfenheit. Ihr Ort ist die Austauschbarkeit zwischen Museumssaal oder -depot und die Transportierbarkeit von einer Galerie zur nächsten Ausstellung; ihr Kontakt spielt sich ab zwischen der Einzelperson des Künstlers und der Anonymität des Publikums; und ihre Aussagen sind geprägt vom Wegfall verbindlicher Themen, vom permanenten Veralten des gerade Aktuellen und vom Rechtfertigungsdruck des einen Sujets gegen die Dementis aller anderen. Solche von den politischen, sozialen und ökonomischen Dynamisierungsprozessen diktierten Unsicherheitsfaktoren sind oft beschrieben und den Künstlern meist zugute gehalten worden, als Konzessionen, dass sie es wirklich schwer haben in der Moderne. Andererseits können der Ort und das Publikum und die Aussage sich nun genauso in einer derart unvorhersehbaren Intensität zusammenfügen, dass dem ebenfalls modernen Phänomen einer Sensation nichts im Wege steht. Eines der aller ersten Beispiele für die Chancen, die der Kunst aus der Freisetzung von allen akademischen, patriarchalen oder ikonografischen Bindungen erwuchsen, liefert Benjamin Wests “Tod des General Wolfe”, das die Jahresausstellung 1771 der Londoner Royal Academy zum Kulturspektakel, zum “Must” werden ließ.
West erzählt in seinem Gemälde eine Geschichte aus dem Jahr 1759 und damit aus dem Siebenjährigen Krieg nach. Der Held, General Wolfe, erfährt, während er bei seinem letzten Atemzug angekommen ist, von dem Sieg, den er gerade mit seinen Engländern in der Schlacht um Quebec und gegen die…