Christian Huther
Alberto Giacometti
»Lebende Asche, unbenannt«
Städel, 14.2. – 22.4.1990
Es beginnt mit einem undurchdringlichen, stechenden Blick, den man so schnell nicht wieder vergißt. Die Augen bestehen aus endlos vielen Kreisen, sie scheinen das eigentliche Lebenszentrum des Porträtierten zu sein. Kein anderer als Alberto Giacometti nämlich, dem einzig der (bedrohte) Blick zählte, zeichnete seinen Freund, den Literaten und Ethnologen Michel Leiris, als dieser sich von einem gescheiterten Selbstmordversuch erholte. Diese bislang nahezu unbekannte Folge von rund 50 graphischen Blättern ist gegenwärtig im Frankfurter Städel zu einer Kabinettausstellung versammelt.
Nach dem knapp vereitelten Suizid zur Jahreswende 1957 – die Gründe sind wohl sehr privater Natur – lag Leiris noch mehrere Monate zu Hause krank im Bett. Giacometti, der besessene Porträtist und Menschenbildner, ergriff die Chance, um den Wehrlosen hautnah und schonungslos, aber keineswegs indiskret zu skizzieren. So brachte er immer den Radierstift und die Kupferplatte an Leiris’ Krankenbett in Paris mit. Mit raschem, silbergrauem Radierstrich zog er seine schwirrenden Linien auf die Kupferplatte, bündelte, verschnörkelte oder rollte die Linien ein und fing damit nicht nur den Schwebezustand zwischen Leben und Tod ein, sondern auch den Weg Leiris’ zurück zum Leben. Eben “Lebende Asche”, aber namenlos, “unbenannt”. Und wenn Giacometti das bei den freundschaftlichen Plaudereien spontan Entstandene nicht gefiel, begann er wieder von vorne.
Der Zyklus setzt mit dem Porträt des kranken, in Schal und Schlafanzug gehüllten Leiris ein, der Blick schwenkt dann durch das Zimmer, hält sich an einigen Möbeln fest, geht zum Fenster, zur Decke und zeigt zwischendurch den zu Bett liegenden, hohlwangigen, fast…